Kennen Sie den schnellsten Weg nach Worb? Auf einer Sonderfahrt durften vergangene Woche rund 70 Mitarbeitende des Regionalverkehrs Bern-Solothurn (RBS) sowie zwei Dutzend Gäste Abschied nehmen vom legendären Tram. Die Fahrzeuge wurden ausser Dienst gestellt. Das aus einem Radiosketch schweizweit bekannte Blaue Bähnli ist Vergangenheit.
23. Januar zwischen 14.30 und 15.30 Uhr: Die an den Haltestellen der Tramlinie 6 wartenden Menschen staunen nicht schlecht, als ein fahnengeschmücktes Blaues Bähnli vorfährt und anhält. Eigentlich haben sich die Gümliger und Muriger bereits im vergangenen Dezember von ihrem Nostalgietram verabschiedet. Umso erfreuter wollen einige noch einmal einsteigen und drücken den Türknopf. Doch die Wagentür öffnet sich nicht. Schulterzucken, fragende Blicke….
Mitarbeitende der RBS in orangen Vesten auf der letzten Fahrt des legendären Trams.
Dann fährt das Blaue Bähnli mit der Nr. 89 weiter. Aus dem Inneren winken rund hundert bestens gelaunte Passagiere in orangen Sicherheitsvesten, darunter geladene Gäste sowie viele Mitarbeitende der RBS. Letztere haben sich die Sonderfahrt gewünscht. Und die RBS-Direktion hat «den Wunsch gerne erfüllt», wie RBS-Direktor Fabian Schmid betont. Als die auf den Perrons Wartenden den Irrtum bemerken, winken die meisten lachend zurück. Einige zücken ihre Smartphones und machen Erinnerungsfotos.
Eine rot-blaue Tramkomposition auf der Kirchenfeldbrücke.
Mit Applaus und im Visier von einigen Tram-Spottern sind die Feiernden um 14.31 Uhr in Worb losgefahren. Die Ehre, das Tram noch einmal zu fahren, fällt Stefan Bachmann zu. Der 49-jährige Kombilokführer hat das legendäre Tram in den letzten 25 Jahren in der RBS-Werkstatt mit eigenen Händen unterhalten, geflickt und es unzählige Male auf der Linie 6 von Worb ins Fischermätteli gefahren. Er kennt das Blaue Bähnli in- und auswendig.
Tramführer erzählt Anekdoten
Tramführer Stefan Bachmann.
Einmal habe er vor dem Sternen Muri einen Fender verloren, erzählt er der LoNa. Der Fangkorb unter der Führerkabine sei beim Überfahren eines Schneewalls abgefallen. An der Haltestelle Muri habe er das Teil dann eigenhändig wieder montiert. Jetzt sei der Abschied vom Blauen Bähnli «schon sehr speziell», glücklicherweise blieben die Erinnerungen, meint Bachmann.
Vorbei geht die Fahrt an der Haltestelle Seidenberg. Dort haben Unbekannte einen Grabstein mit der Aufschrift «In Memoriam Blaues Bähnli» errichtet. Die Stimmung im Wageninnern lässt aber nicht auf eine Beerdigung schliessen: Erheitert zeigen RBS-Mitarbeitenden auf die kleine Gedenkstätte, die wohl in einigen Tagen verschwunden sein wird. Anders als die vielen Leserbriefe, welche in der LoNa und in anderen Berner Medien zur Ausmusterung des Blauen Bähnlis erschienen sind.
Von Unbekannten platzierter Gedenkstein an der Haltestelle Seidenberg.
Auf dem Stumpengleis am Casinoplatz macht die Sonderfahrt Halt. Der Kameramann von Telebärn nutzt die Zeit für Interviews. Passanten schiessen Selfies oder fahren ein letztes Mal mit der Hand über die blau-rote Aussenhülle. «Eine Aera geht zu Ende», sagt nachdenklich ein älterer Herr, der sich noch an das Stationsgebäude am Helvetiaplatz und an die legendäre Tram-Bar erinnern kann.
Endstation Casinoplatz mit dem Berner Münster im Hintergrund.
Um 15.20 Uhr heisst es: Einsteigen. Sechs Minuten später fügt sich das Blaue Bähnli mit der Nummer 89 zwischen Tram Nr. 7 und Tram Nr. 8 in den Linienverkehr ein und fährt über die Brücke Richtung Kirchenfeld. Am Burgernziel-Kreisel verweigert es den Heimweg in die Werkstatt: Statt Richtung Muri will es Richtung Ostring fahren. Wagenführer Bachmann muss die Weiche von Hand stellen, wohl nicht zum ersten Mal. An der Haltestelle Egghölzli passiert das Ganze ein zweites Mal. Das Blaue Bähnli wäre wohl lieber ins Saali gefahren. Die Insassen lachen und erzählen sich weitere Anekdoten.
RBS-Historiker Jürg Aeschlimann.
Übers Mikrofon fasst RBS-Historiker Aeschlimann die Geschichte des Blauen Bähnlis zusammen: Am 23. Dezember 1896 hatte die Bundesversammlung der eigens hierfür gegründeten «Bern-Muri-Gümligen-Worb-Bahn» (BMGWB) die Konzession für den Bau und Betrieb einer neuen Bahnstrecke erteilt. Eröffnet wurde die ursprünglich 9,7 Kilometer lange Verbindung schliesslich zwischen dem Helvetiaplatz und Worb am 21. Oktober 1898. Nach der «Berner Tramway-Gesellschaft» (BT) übernahm die BMGWB 1904 selbst den Betrieb, bevor das Unternehmen 1907 in «Bern-Worb-Bahn» (BWB) umbenannt wurde. Am 21. Juli 1910 wurde die Dampfbahn elektrifiziert.
Mit diesem Triebwagen begann die hellblau/weisse Epoche: Der CFe 4/4 41 im Frühling 1930 kurz vor der Ablieferung beim Hersteller SIG in Neuhausen. (Foto: SIG)
Die Chronik der blauen Trams
1930: Erster Einsatz hellblau-weisser Fahrzeuge auf den VBW-Strecken
1946: Einführung des dunkelblau-weissen Anstrichs
1971: Erste Occasion-Tramwagen mit dunkelblau/weissem Anstrich
1974: Rückzug der Blauen Bähnli von der Linie W, Einsatz der neueren, pendelzugfähigen Fahrzeuge auf der Linie G
1987: Ablösung der alten Blauen Bähnli durch blau/weisse Trams
1988: Einsatz eines blau/weissen Pendelzugs auf der Linie W
1997: Ausrangierung der letzten Blauen Bähnli
2010: Einführung der Niederflur-Sänfte, Umbau im Bernmobil-Rot
2013: Inbetriebnahme des historischen BDe 4/4 36
2024: Ablösung der RBS-Trams durch rote Tramlink von Bernmobil
Die bis zuletzt auf der heutigen Linie 6 im Einsatz stehenden blauen Tramkompositionen waren 1987 beschafft worden. Es handelte sich um neun achtachsige, dreiteilige Gelenkwagen des Typs Be 4/8. Sie trugen die Betriebsnummern 81 bis 89. Das Fahrzeug mit der Nr. 81 war ab 2003 mit den Gemeindewappen von Muri und Gümligen unterwegs. Die Komposition verfügte über 88 Sitzplätze und 60 Stehplätze.
Vorne neu, hinten alt: Begegnung zweier Tram-Epochen am Casinoplatz.
Mit Blick auf die Übernahme des Betriebs durch Bernmobil wurden die Fahrzeuge ab September 2010 blau-rot gestrichen und rot beschriftet. Ausserdem wurden sie mittels zusätzlicher, niederfluriger Mittelteile zu Zehnachsern des Typs Be 4/10 umgebaut. Durch die Vergrösserung kamen 15 Sitz- und 10 Stehplätze hinzu. Zusätzlich zu den Blauen Trams wurden in den letzten Jahren zwischen Worb und Bern neue Combinotrams von Bernmobil eingesetzt.
Ab Juni 2024 wurde die blau-rote Be-4/10-Flotte schrittweise durch die roten Tramlinks von Bernmobil ersetzt. Die neusten Fahrzeuge sind knapp 43 Meter lang und haben ein Fassungsvermögen von bis zu 260 Passagieren. Die letzte Publikumsfahrt eines alten blau-roten Trams im offiziellen Linienverkehr erfolgte mit dem Fahrplanwechsel vom 14. auf den 15. Dezember 2024.
Mechanisch gegen elektronisch
Tausende von Tramfans in der ganzen Schweiz trauern dem Blauen Bähnli nach. Ein Wagenführer erinnert daran, dass man im Führerstand «arbeiten» musste. Die Blauen Trams hätten nicht mit Joystick und viel Elektronik funktioniert, sondern noch mechanisch. Ausserdem seien sie im Gegensatz zu den heutigen High-Tech-Kompositionen relativ störungsarm gewesen, schiebt er nach.
Blick in den alten Führerstand mit dem härtesten Sitz der ganzen Flotte.
Trotzdem produziert Tram Nr. 89 auf den letzten Metern, kurz vor der Werkstätte in Worb, eine Störung: Ein ungeplanter Schnellstopp rüttelt die Passagiere durcheinander. Ein Magnet soll die Bremsung ausgelöst haben, berichtet der lachende Tramführer und fühlt sich bestätigt: «Das Fahrzeuge wollte unter keinen Umständen zurück ins Depot.»
In der Worber Werkstatt stehen inzwischen Festbänke und Tische bereit. Die Gäste nehmen Platz, geniessen Getränke und Häppchen. Daniel Stoll, Leiter Rollmaterial bei RBS, informiert über die alten und neuen Fahrzeuge. Bernmobil-Direktor René Schmied lobt die gute Zusammenarbeit mit der RBS und darf, gemeinsam mit Corinne Ribeli, Leiterin Technik, von RBS-Direktor Schmid einen alten Haltstellenplan der Linie 6 entgegennehmen.
Den Abschluss der Feier macht ein Schauspieler-Duo: Danièle Themis und Simon Burkhalter geben den berühmten Radiosketch über das Blaue Bähnli «Dr schnäuscht Wäg nach Worb» zum Besten, Der komische Dialog zwischen einem Deutschen (Karl Steuer) und einem Berner (Ernst Mischler) war 1954 erstmals über den Äther gegangenen und 1974 wiederentdeckt worden. Jahrelang gehörte er im DRS-Nachtexpress zu den Blockbustern.
Seine Spuren hinterlassen hat das Blaue Tram auch in der Musikwelt: Das alte Holz- Interieur des Blauen Bähnli (im Volksmund 3. Klasse genannt) diente Mani Matter als Cover für seine Schallplatte «Ir Ysebahn»: In einem Fahrzeug der Serie 30/33 posierte der legendäre Berner Chansonier einige Monate vor seinem tödlichen Unfall (1972). Die Platte erschien erst nach seinem Tod und geniesst heute – genau wie das Blaue Bähnli auch – Kultstatus.
Neun Fahrzeuge zählte die Flotte der Blauen Trämli einst. Was geschieht mit dem Rollmaterial? Tram Nr. 89 wurde diese Woche (am 29.1.25) in drei Einzelteile zerlegt und auf einem Tieflader nach Biberist gebracht. Dort wird es in den kommenden Monaten vom Verein «EW Nostalgie» saniert und umgebaut. Das letzte «Blaue Bähnli» kann ab Mitte 2025 gegen Voranmeldung in Biberist besichtigt und als stationäres Eventtram gemietet werden.
Übungsobjekt der Berner Blaulichtorganisationen
Das zweite blaue Tram hat die Blaulichtorganisation «Schutz & Rettung Bern» übernommen. Feuerwehr und Sanität der Stadt Bern werden in und um das Fahrzeug Übungen durchführen. Die sieben restlichen Trams werden verschrottet. Nach Aussage von Daniel Stoll, Leiter Rollmaterial bei der RBS, erhielt das Unternehmen zahlreiche Anfragen von Privatpersonen zur Übernahme eines ausgemusterten Fahrzeugs. Leider verfügte niemand über ausreichend Platz für ein vierzig Meter langes, 45 Tonnen schweres Tram in seinem Garten.
Titelfoto: Allez Les Bleus! Das Blaue Tram anlässlich der EURO 08. Foto: Urs Aeschlimann. Weitere Fotos: PS und SIG
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Herzlichen Dank für Ihren tollen Bericht!
Bitte, sehr gerne.