Die Autorin Bettina Cautero-Stadelmann lernte als junge Frau die über 70-jährige Ilse Gronowski kennen. Daraus entstand eine mehr als zwanzigjährige Freundschaft. In ihrem Buch «Ein Loch in der Welt» erzählt sie die Geschichte ihrer jüdischen Freundin, die von Krieg zu Krieg – von Berlin, Schanghai bis nach Israel – getrieben wurde.
Mit der vorliegenden Geschichte Ein Loch in der Welt löst die Autorin ihr Versprechen gegenüber ihrer jüdischen Freundin ein, deren Leben für die Nachwelt festzuhalten. Bettina Cautero-Stadelmann (*1970) wuchs wohlbehütet im katholischen Zug auf und arbeitet heute als Primarlehrerin. Sie ist verheiratet und hat eine 17-jährige Tochter. Sie selbst war 19 Jahre alt, als sie in den Ferien die 71-jährige Ilse Gronowski in einem Café auf der Piazza in Verona kennenlernte. Von dieser «zierlichen älteren Dame mit blondem Pagenschnitt», deren «wache blauen Augen lebhaft unter den geschminkten Wimpern hervorblitzten» war sie fasziniert. Und sie schreibt aus Sicht der Neunzehnjährigen: «Ich weiss sofort: Vor mir sitzt eine Frau von Welt!»
Ein gemeinsames Buchprojekt
Eine über zwanzigjährige Brieffreundschaft entsteht zwischen den beiden ungleichen Frauen. Fast monatlich korrespondieren sie in englischer Sprache: an «Dear Bettina», unterschrieben von «Yours Mrs Gronowski». Gelegentlich besuchen sie sich. Das Vertrauen wächst. Ilse Gronowski wird für die junge Bettina Ratgeberin in Lebensfragen, zudem erzählt sie ihr von ihrem turbulenten Leben zwischen Berlin, Schanghai und Israel. Und sie wünscht, dass Bettina die Geschichte aufschreibt, zumal kaum jemand etwas über jüdische Flüchtlinge in Schanghai weiss. Nach ihrem letzten Besuch in Israel 2005 ist Bettina Cautero-Stadelmann bereit.
Das 2024 erschienene Buch basiert auf den zahlreichen Gesprächen, Notizen, Erinnerungen, Anekdoten und Tonbandaufzeichnungen sowie auf den zusätzlichen Recherchen in Berliner Archiven. Die zentrale Geschichte der Protagonistin ist aus der Sicht der Erzählerin in der Ich-Perspektive geschrieben. Sie wirkt so authentisch, dass die Leserin den Eindruck bekommt, sie stamme aus der Feder von Ilse Gronowski selbst.
Aber das Buch fokussiert nicht nur auf die Lebensgeschichte, sondern bezieht auch die Lebensumstände und die Gedanken der Autorin mit ein. Solche Textstellen erscheinen jeweils in blauer Schrift. Zusätzlich tauchen einzelne kursiv gedruckte Briefe von Ilse Gronowski an Bettina in deutscher Übersetzung auf. Sie geben originale Antworten zu Situationen, die in der Lebensgeschichte behandelt werden.
Die ungleichen Freundinnen Ilse und Bettina in Haifa, 1992
Ilse Gronowskis Berliner Jahre
Ilse Gronowski kommt am 3. November 1918 als Tochter einer Mutter aus gutbürgerlicher protestantischer Handwerkerfamilie aus Hamburg zur Welt. Der Vater stammt aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Wie sie ein Paar wurden, darüber wurde nie gesprochen. Obwohl beide Familien nicht streng religiös waren, waren sie gegen eine Heirat. Die Mutter konvertierte vor der Hochzeit zum Judentum und hätte als disziplinierte Hanseatin gut einen koscheren Haushalt führen können. Doch der Vater hielt nichts davon, so liessen sie es bleiben.
Ilse blieb die einzige Tochter. Mit ihrer Freundin trieb sie «ganz und gar unmädchenhaften Schabernack», versteckte herumstehende Fahrräder, vertauschte die Mülleimer vor den Häusern und bekam den Spitznamen «Berliner Strassenjöre». Aber stets hatte sie Stifte zum Zeichnen dabei. Sie besuchte eine private Kunstgewerbeschule, die 1935 schliessen musste. Ab 1933 wurde die Nazipropaganda auch in der Schule immer schlimmer und 1938, kurz nach Ilses zwanzigstem Geburtstag, begannen die Pogrome.
Die Künstlerin Ilse Gronowski vor ihrem Wandbild in Israel, 1991
Flucht nach Schanghai
Sie mussten weg. Doch da die Familie zu wenig Geld und keine Kontakte in Amerika, Südamerika oder Australien hatte, blieb ihnen nur Schanghai, das kein Visum verlangte. Die chinesische Stadt hatte damals einen besonderen internationalen Status und suchte Fachleute. Über Triest fuhren sie, Mutter, Vater und Tochter, mit dem Schiff nach Schanghai. Auf dieser Überfahrt mochte etwas Ferienstimmung aufkommen, zumal Ilse hier ihren zukünftigen Mann Georg Gronowski, einen Grafiker aus Berlin kennenlernte. Doch spätestens bei der Ankunft nach rund einem Monat wurde allen bewusst, sie gehörten zum grossen Strom der Flüchtlinge; bis 1939 kamen hier über 16’000 an.
Anfänglich fanden sie Unterstützung durch die ansässige jüdische Gemeinschaft. Aber das Leben war ungewohnt und schwierig. Ilse Gronowski erinnert sich in einem an dieser Stelle eingeschobenen Brief an Bettina: «Wir hatten keine andere Wahl, wir mussten einfach weitermachen.» Zudem war Schanghai von den Japanern besetzt und wurde im Winter 1945 durch amerikanische Luftangriffe bombardiert, auch das jüdische Quartier.
Nach der Kapitulation Japans – nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki – brachten die Amerikaner Medikamente und Lebensmittel und es ging aufwärts, die Geschäfte florierten. Auch für die inzwischen verheiratete Ilse Gronowski und ihre Familie wurde das Leben besser und schliesslich wollten sie gar nicht mehr fort. Alles hätte gut kommen können, hätte nicht Mao Tse-tung die Macht in China übernommen. Alle Ausländer wurden ausgewiesen.
Flucht nach Israel
Wieder mussten sie weg, doch wohin? Nach Deutschland zurück wollten sie nicht. Für Amerika brauchte es noch immer Bürgen. Schliesslich brachte sie das Schiff ins «Gelobte Land». Doch ohne Geld und Connections begann auch hier das Leben wieder ganz unten im Flüchtlingslager. Gelegenheitsjobs folgten vor allem für Ilse, bis sie und ihr Mann nach 1950 Arbeit fanden; und Ilse sich sogar als Kunstmalerin verwirklichen konnte. Schliesslich konnten sie sich ein eigenes Häuschen leisten. Der Vater war bereits in Schanghai gestorben, Ilses Ehemann Georg starb in Israel. Die Mutter lebte bis zu ihrem Tod 1970 mit ihrer Tochter zusammen.
Ilse und Bettina bei ihrem letzten Besuch in Israel, 2005
Die letzten Jahre
Das letzte Kapitel Brieffreundinnen erscheint mehrheitlich auf blaugedruckten Seiten mit persönlichen Aufzeichnungen der Autorin. Dabei erzählt sie von ihren Besuchen in Israel, von Treffen in München und in der Schweiz. Mit den Jahren baute Ilse Gronowski gesundheitlich ab. Am Telefon zum 96. Geburtstag erkannte sie ihre Freundin nicht mehr. Trotzdem schickte ihr Bettina als erste eine Abschrift ihres gemeinsamen Buchprojektes. Ilse Gronowski starb 2016, achtundneunzigjährig, in ihrem kleinen Häuschen in Israel.
Titelbild: Ilse Gronowski zu Besuch bei Bettina in der Schweiz, 1994.
Bilder: aus dem Privatarchiv der Autorin.
Bettina Cautero-Stadelmann, Ein Loch in der Welt, Amsel Verlag, 2024
ISBN 978-3-906325-82-8