StartseiteMagazinLebensartZwischen Stadt und Land - die Agglomeration

Zwischen Stadt und Land – die Agglomeration

Eine Landschaft, die früher von Kuhställen, Bauerngärten und Feldern geprägt war, hat sich verändert. Landwirtschaftsbetriebe sind nur noch an den Rändern der Vorortgemeinden zu finden. Bei einem Spaziergang betrachten wir die vielfältigen Ansichten von Zollikofen BE.

Nur ein paar steile Stufen hinunter und schon gelangen wir auf den lauschigen Spazierweg an der Aare. In Flussrichtung gehen wir nicht länger als zehn Minuten, bis wir am nächsten Aareknie, einem der zahlreichen, zum ersten Höhepunkt kommen: dem Schloss Reichenbach. Dort sei höchstwahrscheinlich ein römisches Flusskastell gestanden, sagen die Historiker, ein Aussenposten der bekannten Siedlung auf der Engehalbinsel gegenüber. Die im Mittelalter daraus entstandene Herrschaft Reichenbach erstreckte sich über das gesamte Gebiet des heutigen Zollikofen.

Interessant wird es 1683, als Beat Fischer, Landvogt von Wangen a. A. und Begründer des Schweizerischen Postwesens, den Besitz übernahm. Die Fischerpost galt als eine der bedeutendsten europäischen Postbetriebe und als wichtigste Post in der Schweiz. In den kommenden Jahren liess er anstelle der alten Burg ein Barockschloss erbauen und Wand an Wand eine Bierbrauerei, angeblich auf Anregung seiner durstigen, – wen wunderts – aus Bayern stammenden Postreiter. – Denkmalschutz gab es damals nicht, denn die Brau- und Lagergebäude sind hässlich und wirken zusammengewürfelt.

Blick auf die Nebengebäude des Schlosses Reichenbach. Früher waren daneben zwei Mühlen in Betrieb.

Unser Spazierweg wird nun anstrengend: Auf einem steinigen, steilen Weg, der auch auf die Römer zurückgeht, und anschliessend auf Feldwegen kommen wir nach Bühlikofen, auf einer Kuppe gelegen. Es gehöre zu den schönsten und am besten erhaltenen Weilern im Kanton Bern, erzählen die Alteingesessenen. Hier ist Zollikofen noch ein Bauerndorf mit wunderbarer Aussicht in die Berner Alpen und den Jura. – Nur ausserhalb des Ortes befinden sich einzelne Bauernhöfe. Zwei kleine Landsitze in der Nähe zeugen von der Lust der Berner Patrizier, sich eine Villa auf dem Land zu leisten.

Bühlikofen

Auf dem Weg in den Ort zurück lassen wir die Blindenschule links liegen, die älteste Blindenschule der Schweiz. Seit 1961 sind Schule und Schulheim für Sehbehinderte hier beheimatet. Vor allem das Blindenmuseum hätte unseren Besuch verdient. Als Sehende können wir da erfahren, wie es sich anfühlt, nichts oder fast nichts zu sehen. Das beeindruckt und weckt Hochachtung für alle, die durch diese Schule gehen und dadurch selbständig werden.

Im Graben gab es früher eine Sägemühle

Die Bernstrasse kann man fast nicht vermeiden. Zollikofen hat eigentlich kein richtiges Zentrum, stattdessen diese lange Verkehrsader, die von Bern her den Ort von Süd nach Nord durchzieht. Ein stetes Ärgernis, nicht erst seit heute, sondern, wie eine Informationstafel erläutert, schon seit der Zeit um 1900, seit der Verkehr motorisiert wurde, Individualverkehr und öffentliche Bahnen in Konkurrenz traten. Wir überqueren sie beim sogenannten Ziegeleimärit, heute Supermarkt, von 1877 bis 1933 die grösste Industrieanlage Zollikofens. 1933 zerstörte ein Brand die Backsteinfabrik, damals wohl ein einschneidendes Ereignis, das heute nur noch vom Hörensagen bekannt ist.

Hier wird Landwirtschaft unterrichtet und dokumentiert, nebenan besteht ein grosser Bauernbetrieb.

Ungefähr 200 Meter östlich der Bernstrasse, parallel zu ihr, sind wir erneut mit Landwirtschaft konfrontiert: Die Rütti ist das wichtigste Bildungs- und Informationszentrum für Landwirtschaft im Kanton Bern. Sein Einfluss reicht wohl sogar über den Kanton hinaus.

Anfang des 19. Jahrhunderts hatten sich Berner Würdenträger diesen Landsitz erbaut. Hier begann der Schulbetrieb 1860.

Zunächst erblicken wir die Gebäude der Molkereischule, akzentuiert durch einen hohen Backsteinkamin, der nicht mehr in Betrieb ist und dieses Jahr von einem Storchenpaar genutzt wird. Die Landwirtschaftliche Schule Rütti – das heutige Inforama – an der Wahlenallee (denken Sie an die «Anbauschlacht» im 2. Weltkrieg!) entstand im 19. Jahrhundert, zunächst in einem Landschlösschen mitten im Grünen. Der Kanton eröffnete die Schule 1860. Vierzig Jahre später wurde daneben ein imposantes Schulgebäude erbaut, das heute für Schulungen aller Art genutzt wird. Die Schreibende hat dort vor vielen Jahren ihren ersten und einzigen Computerkurs besucht.

Eine Storchenfamilie hat sich auf dem  Kamin der Molkereischule eingerichtet.

Die Landwirtschaftsschulung, die Fachhochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelkunde, hat sich mindestens teilweise noch weiter an die Grenze Zollikofens verschoben. Ein Zentrum für Geflügelhaltung gehört ebenfalls zu dem Komplex.

Die Aufschrift «Swiss Herd Book» an einem dieser Gebäude macht mir jedesmal Eindruck, wenn ich vorbeikomme: Dort werden alle Rassen von in der Schweiz gehaltenen Nutztieren verzeichnet.

Wie lebt man nun an einem solchen Ort? – Besser, als es den Anschein hat. Zwar kann man nur kaufen, was Grossverteiler und Discounter anbieten. Alle kleineren Geschäfte, ein Käsespezialist, der Metzger, zwei Drogerien, ein Uhrmacher, der neben Uhren auch Schmuck reparierte, eine engagierte Schuhmacherin, eine kleine Boutique, ein Radio- und Fernsehladen, in dem ich einmal zehn Tonbandkassetten kopieren durfte – alle sind verschwunden.

Blick von Osten her auf Zollikofen

Das ist vielleicht nicht nur hier ein Problem. Fitness-Studios gibt es dafür zuhauf! Daneben kulturelle Angebote, Yoga-Kurse, Tanz- und Lesenachmittage, viele weitere Aktivitäten – und eine aktive Organisation Zollikofe mitenang, getragen von vielen Freiwilligen für alle, die Hilfe brauchen. Schliesslich, wenn es einem zu eng wird, ist Zollikofen durch S-Bahnen sehr eng mit Bern verbunden.

Nachwort: Als ich beschloss, meinen Wohnort zu beschreiben, war ich überhaupt nicht sicher, was dabei herauskommen würde. Umso erfreuter wurde ich, während ich schrieb, dass mir immer mehr Argumente einfielen, die Zollikofen zu einem angenehmen Wohnort machen. Ist es das, was eine Agglomeration ausmacht – «nicht Fisch, nicht Fleisch» und doch lebenswert?

Titelbild: Barockschloss Reichenbach an der Aare, die «Wiege» Zollikofens, heute von mehreren Parteien bewohnt. (alle Fotos mp)

 

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