Jakob Berger erzählt, nach dem Buch «Un juif pour l’exemple» von Jacques Chessex, ein Stück traurige Schweizer NS-Geschichte. Mit André Wilms und Bruno Ganz.
1942 steht Europa in Flammen.Wir aber leben in der Schweiz, in Payerne.Der Krieg ist weit weg, denkt man hier. Er betrifft die anderen, auch wenn die Grenze nur wenige Kilometer entfernt ist. In dieser abgeschiedenen Region hat die Erde den Geschmack des Blutes von Schweinen und Rindern, die hier seit Jahrhunderten geschlachtet werden. Die Wirtschaft läuft schlecht. Fabriken schliessen ihre Tore. Die Bank meldet Konkurs an. Die Menschen gehen mit finsteren Mienen durch die Strassen, in den Cafés wird gejammert. Fernand Ischi, ein durchtriebener, hinterlistiger Wichtigtuer, hat mit etwa zwanzig Mitbürgern einen Eid auf die Nazi-Partei geschworen. Sie träumen davon, die Aufmerksamkeit der deutschen Gesandtschaft, vielleicht sogar von Adolf Hitler, zu erhalten. Im Visier haben sie den Juden Arthur Bloch, einen sechzigjähriger Berner Viehhändler, der alle Bauern und Metzger der Gegend kennt. Am 16. April findet der nächste Viehmarkt statt. Dann werden Ischi und seine Spiessgesellen zur Tat schreiten, wird ein Jude getötet und ein Exempel statuiert werden.
Siebenundsechzig Jahre später, 2009, als der Schweizer Schriftsteller Jacques Chessex mit dem Roman «Un juif pour l’exemple» an jene Ereignisse erinnert, wird er als Nestbeschmutzer ins Visier genommen, bis er nach heftigen verbalen Attacken während einer Buchpräsentation an einem Herzinfarkt stirbt. Noch immer zieht die Schweiz es vor, wenn sie kann, die dunklen Seiten ihrer Vergangenheit zu verschweigen. Trotz der erdrückenden Faktenfülle des 25-bändigen Bergier-Berichts, tut man sich schwer, zu benennen, was gewesen ist. Selbst die Leitung des Filmfestivals von Locarno hat den preiswürdigen und politisch wichtigen Film bloss in einem Nebenprogramm gezeigt.
Jacques Chessex in einer Radiosendung über sein Buch
Die Frage nach der Perspektive der Erzählung
Um einen Film richtig zu verstehen, muss man wissen, aus welcher Perspektive er erzählt. Gerade bei «Un juif pour l’éxemple» des schweizerisch-britischen Doppelbürgers Jakob Berger ist das wichtig. Der Film erzählt die Geschichte eines Judenmordes im Jahre 1942 und die Geschichte des Schriftstellers Jacques Chessex, der 2009 darüber schreibt. Zwischen diesen beiden Zeitebenen pendelt der Film: Chessex schaut als 75-Jähriger zurück, und Chessex erlebt die Ereignisse als 8-Jähriger.
Die Geschichte ist Chessexs eigene Geschichte, weshalb sie ihn bis zu seinem Lebensende verfolgt hat. Er war damals ein Schuljunge, erzählt also nicht das «objektive» Drama der Ermordung von Arthur Bloch, sondern eine «subjektive» Version. Er erinnert sich an Vater, Mutter, die Stadt, die Juden in Payerne, Arthur Bloch und den Garagisten Fernand Ischi, dessen Tochter seine Spielkameradin war. Auf den letzten Seiten des Romans heisst es: «Es kommt vor, dass der alte Schriftsteller, der diese Geschichte als kleiner Junge in seiner nächsten Umgebung erlebt hat, mitten in der Nacht geplagt und verletzt aufwacht. Dann glaubt er, jenes Kind zu sein, das er damals war und das den Seinen bohrende Fragen stellt. Es fragt, wo der Mann sei, den man ganz in der Nähe ermordet und zerstückelt habe. Er fragt, ob er wiederkomme und wie man ihn empfangen werde.» Als Schriftsteller fragt er sich: Was wusste ich? Was ahnte ich? Was vermutete ich?
Der alte Arthur Bloch und der junge Jacques Chessex
Wie Jakob Berger seinen Film realisierte
Chessex beginnt sein Buch in konzentrischen Kreisen: Europa 1942, die Schweiz, das Waadtland, die Broye, Payerne. Auf 40 Seiten wird der Hintergrund ausgebreitet. Die erste Hälfte besteht aus einer Abfolge von Situationen, die ausweglos zum Verbrechen führen.«Ich sagte mir, dass es interessant wäre, auf ähnliche Weise mit der Kamera vorzugehen.» Also nicht mit einer dramatisierenden Montage Emotionen zu erzeugen, sondern komplette Situationen mit Tableaus, von Luciano Tovoli grossartig gefilmt, zur Auseinandersetzung vorzulegen. Zum Beispiel mit einem Tableau der von Soldaten zurückgewiesene Flüchtlinge; der Bauern, die ihre toten Kühe begraben; der Arbeiter beim Verlassen ihrer Fabrik, die geschlossen wird.
«Un juif pour l’exemple» verfilmen, heisst, auch vom Autor zu erzählen. «Die Figur des Schriftstellers hat mich immer interessiert, denn ich bin der Sohn eines Schriftstellers. Mein erster Film handelt davon, wie der Sohn einer Schriftstellerin die Geheimnisse der Stadt entdeckt, in der sie gestorben ist: Barcelona. Mein zweiter Film, wie der Sohn eines Schriftstellers seinen Vater entführt, just als dieser den Nobelpreis erhalten soll, und mit ihm abrechnet.»
Berger wollte keine Filmmusik, weil diese sich meist zu ähneln schien. Er beauftragte den Musikproduzenten Manfred Eicher, ihm eine Montage von Musikstücken der klassischen Moderne zu liefern.
Die Idee hinter dem Film: «Manchmal glaube ich, Gott hat seine Schöpfung verlassen. Nun leben wir mit dem Schrecken seiner Abwesenheit. Gott, der Schöpfer, wurde zum Deserteur. Das ist schwer zu ertragen.» Mit diesen Sätzen in einem Vortrag deutet Jacques Chessex an, dass es sich zwar um ein individuelles Drama, eine gesellschaftliche Kritik, doch letztlich eine existenzielle Tragödie handle.
Chessex als Fasnachts-Sujet
Auf der Suche nach dem Entsetzlichen
Aus einem Gespräch zwischen dem Filmemacher Jacob Berger (JB) und dem Chronisten und Schriftsteller Christophe Gallaz (CG):
CG: Kriminelle Gewalt und die Befriedigung, die sie den Tätern verschafft, sind wiederkehrende, um nicht zu sagen konstante, historische Phänomene.
JB: Ja. Eine der Tatsachen, die mich dazu bewogen haben, diesen Film zu machen, ist der zunehmend spürbare Nachhall der 1930er- und 40er-Jahre im Heute. Ein traumatisierender Nachhall, der mir keine Ruhe lässt, weil er die Frage aufwirft: «Wie gehen wir damit um?» Nicht über diese Maschinerie nachzudenken, macht uns unweigerlich zu Mitverursachern ihrer möglichen Wiederkehr, also zu Schuldigen. Bisher handelten meine Filme von familiären Beziehungen und der Logik der menschlichen Gefühle. Heute aber macht sich die Aufforderung «Wenn du dich nicht um Politik kümmerst, wird sich die Politik um dich kümmern» auf bedrohliche Weise in mir bemerkbar. Wenn man jetzt bestimmte Dinge nicht anspricht, wann dann?
CG: Aber dafür braucht man Energie. Als das Buch von Jacques Chessex erschienen ist, haben mich zwei Dinge verblüfft. Das Erste war der Schutzmechanismus, der sofort in Payerne und Umgebung zum Tragen kam. Man solle die Vergangenheit ruhen lassen. Das Zweite, dass die Verbrecher von Payerne sich auf die Kultur dieser Stadt beriefen, in der man seit Jahrhunderten Schweine geschlachtet hat.
JB: Ich fand es interessant, zu zeigen, wie alles immer schlimmer wird: Wie eine mit Leitplanken versehene Gesellschaft plötzlich in eine völlig haltlose, enthemmte, jeder Form von kollektivem Über-Ich beraubte Sprache verfällt, die dazu führt, dass man urplötzlich abscheuliche Äusserungen macht und schliesslich ebenso abscheuliche Taten begeht, ohne dass dies jemanden gross stören würde. Man darf nicht vergessen, dass am Anfang immer das Wort steht.
CG: Und mit dieser enthemmten Sprache geht fast zwangsläufig ein Milieu der Straflosigkeit einher, die zu Entgleisungen führt.
JB: Und genau dieses Milieu zu zeigen, ist interessant. Die Mörder in meinem Film werden nicht als ekelerregende, ja nicht mal als verdammenswerte Menschen gezeigt. Sie sind in einem Netz von Verhaltensweisen, Taten und Worten gefangen. Ich wollte zeigen, wie aus diesem Netz das Grauen hervorgehen kann. Denn die Figuren werden stets in ihren Mikrokosmen gezeigt: Sündenböcke und potenzielle Henker gibt es überall. Doch wie und warum geht man dann zur Tat über? Und warum neigt man nach begangener Tat eher zum Vergessen als zum Erinnern? Und warum muss ein Schriftsteller, der sechzig Jahre später diese Geschichte erzählt, mundtot gemacht werden? An manchen Orten, an denen schreckliche Dinge geschehen sind, wie zum Beispiel in Südafrika, hat man Überlebende, Zeugen und Henker versammelt, damit sie ihre Geschichten erzählten. Diese Menschen haben berichtet, geweint, sich gegenseitig beschuldigt, sich bekannt. Man konnte es nicht mehr leugnen. Jeder war auf die eine oder andere Weise an der Tragödie beteiligt. Erst dann wird Vergebung möglich.
CG: Eine Vergebung, die nicht auf dem Prinzip von Tugendhaftigkeit gründet, sondern von Verstehen.
JB: In Payerne aber hat man das Gegenteil gemacht. Es gab ein Verbrechen, dann einen Prozess, die Schuldigen wurden verurteilt, und man sagte ganz klar: Alles ist geregelt. Die Justiz hat ihr Werk vollbracht, alles kann wieder zur Ordnung zurückkehren, bitte weitergehen, es gibt nichts mehr zu sehen! Die Lokalpolitiker, die Journalisten, die Richter, alle haben das gleiche Urteil gefällt: Je schneller man diese Geschichte vergisst, desto besser! Bis hin zu den jüdischen Händlern aus der Gegend, die gesammelt haben, um den Mördern von Arthur Bloch nach ihrer Haftentlassung Kleidung, Arbeit oder Geld zu spenden! Manche Mitglieder der Familie Bloch, Grossneffen und Cousins, hatten bis zur Publikation des Buches nicht die geringste Ahnung, was Arthur Bloch zugestossen war. Und mit dieser Publikation kam es zu einer neuen Offensive des Leugnens.
CG: In seinem «Briefe an einen jungen Dichter» schreibt Rilke: «Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.» Ein erstaunlicher Satz! Er stellt unser reflexartiges Denken über Gewalt und Verbrechen auf den Kopf. Hunde beissen manchmal zu, wenn sie Angst haben.» Und so würde ich meinen, dass uns dein Film dazu einlädt, nach dem Entsetzlichen zu suchen, wo auch immer es ist.
Regie: Jacob Berger, Produktion: 2016, Länge: 73 min, Verleih: Praesens