Der Mensch muss zurück zur Erde finden und das Mächtige achten.
Die traditionellen Kirchen leiden unter Austritten, während die Freikirchen, die religiösen Zirkel, Vereinigungen und Sekten enormen Zulauf verzeichnen. Es sollen Tausende sein, die den Menschen anbieten, ihre Sinnsuche zu befriedigen. Die Frage nach dem Ende des Lebens treibt sie um. Was wird sein, wenn der Mensch stirbt? Wird er als Geist-Seele weiterleben? Wird er wiedergeboren werden, hält er sich in einem Himmel auf oder wird er eins werden mit der Natur? Diese Fragen, die der Mensch nicht beantworten kann, beflügeln seine Phantasie. Er beginnt seinen eigenen Himmel zu erträumen. Schon Platon hat in seinem Höhlengleichnis behauptet, das Wesen des Menschen und der Dinge könne nur erkannt werden, wenn der Mensch sich ausserhalb der Höhle, die er als das gemeine Leben darstellt, im Licht aufhalte. In der Höhle finde er keine wahre Erkenntnis. Das ist ein schönes Bild. Dem Menschen aber gelingt es nicht, aus der Höhle zu steigen. Er kann die Wahrheit also nicht erkennen. Platon hat mit seiner Vision die Weltanschauung verändert. Zuvor und noch zu seiner Zeit lebten die Griechen mit den Göttern, obwohl sie nicht tatsächlich an sie glaubten. Sie postulierten sie als Mächte, weil sie spürten, dass es Geheimnisse um den Menschen und um sein Wirken gibt (siehe Kolumne: Das Genaue und das Mächtige, 14. 03. 19). Für Platon existierte das Licht der wahren Erkenntnis ausserhalb der Höhle. Dieses platonische Licht wurde für die Christen zum Himmel.
Der Kirchenvater Augustinus übernahm Platons Idee und konstruierte den himmlischen Gottesstaat, die Civitas dei. Er gestaltete sie zu einem grandiosen Überbau der christlichen Welt. Fortan sahen die Menschen die Welt im Abbild des Augustinischen Gottesstaates, was in den gotischen Kirchenportalen und Kapitellen grossartig zum Ausdruck gelangte: Die klaren Hierarchien mit der Dreifaltigkeit und der Gottesmutter an der Spitze, der priesterlichen Rangordnung und dem Kirchenvolk. Damit war die ideale Gegenwelt erfunden und wurde als die wahre gepriesen. Sie blieb als Himmel der Sehnsuchtsort des Menschen, der alles unternahm, um am Ende des Lebens dem Fegefeuer und der Hölle zu entgehen. Da der Mensch aber ein Sünder blieb, musste ihm die Kirche Sakramente anbieten, von denen die Beichte als sehr hilfreich erschien. Nun ist die Idee des Gottesstaates als Utopie zusammengestürzt und der Mensch ist endgültig auf sich selbst verwiesen.
Es gab immer Skeptiker, die nicht an die Konstruktion eines Himmels glaubten. Nietzsche verkündete ende des 19. Jahrhunderts den Tod Gottes. Der Basler Philosoph Hans Kunz sprach von der e i n e n Welt und überwand mit seiner Philosophie die Spaltung von Himmel und Erde. Ende der sechziger und anfangs der siebziger Jahre predigte der Gottsucher und Dominikanermönch Gonsalv K. Mainberger in der Pfarrei St. Josef in Luzern. Er und Pfarrer Adolf Stadelmann zogen die Massen an. Mainbergers Predigten kreisten um den Gedanken, dass Jesus umsonst gestorben sei, und er entwickelte eine Aufsehen erregende Theologie: «Das Umsonst des Todes Jesu ist jene schmale Stelle, die uns den Blick auf Gott frei gibt.» Die Kirche, die durch die Jahrhunderte auf ihre Macht baute, begann den Dominikaner zu beargwöhnen und seine Gedanken auf die Vereinbarkeit mit dem katholischen Glauben zu untersuchen. Mainberger hängte, in arger Bedrängnis, schliesslich die Mönchskutte an den Nagel und begab sich auf den langen Weg zum «partikulärer Atheismus».
Im Kirchenvolk, bei den Schafen des Herrn, regte sich Unbehagen, das sich in Unsicherheit steigerte, weckte Fragen nach dem Sinn des kirchlichen Lebens und steckte schliesslich im Zweifel an der Wahrheit des Glaubens fest. Die Kirchen begannen sich zu leeren. Der Verlust des Glaubens führte zu einem Nihilismus des Konsums und zur Leere mit überbordenden Vergnügungsaktivitäten. Nackt stand der Mensch da wie einst Adam und Eva. Die Kirche vermochte sein metaphysisches Bedürfnis nicht mehr erfüllen. Darum suchte er nach einer spirituellen Gemeinschaft, die ihm Ersatz wurde für die verlorenen Sitten, Rituale und Bräuche. Ohne sie stellte sich Heimatlosigkeit ein. Der moderne Mensch geriet so in arge Verlegenheit. Er spürte zugleich, dass er die Erde, die sich immer mehr von ihrer unfreundlichen Seite zu zeigen begann, verraten hatte. Wo steht er jetzt?
Das Mächtige bedrängt ihn noch immer. Er spürt es, aber er übertönt es um des Vergnügens willen, achtet und anerkennt es kaum. Dabei ist ihm eine wunderbare Welt geschenkt und er könnte mit dem Philosophen Immanuel Kant sagen: »Zwei Dinge erfüllen mein Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralischen Gesetz in mir.» Im Vergleich zum Wort des Philosophen könnte der Mensch erkennen, dass er nicht nackt dasteht. Es hätte eine Aufgabe als Hüter und Hirte der Erde.