Mit dem Dokumentarfilm «Tiger und Büffel» hat Fabian Biasio den weltweit bekannten Karateka Bruno Koller, der an Demenz erkrankt und dennoch weiterkämpft, und seine Familie über acht Jahre begleitet und daraus ein eindrückliches und informatives Dokument eines aussergewöhnlichen Menschen geschaffen.
Bruno Koller ist einer der angesehensten Karateinstruktoren ausserhalb Japans. Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag eröffnet ihm sein Arzt: «Herr Koller, Sie haben Demenz.» Ein Mann wie ein Baum gerät ins Wanken. Doch Koller will den Weg als Karateka beharrlich weitergehen, mit den schwindenden Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen. Gleichwohl stossen Bruno und sein Umfeld zunehmend an Grenzen. Einer, der gewohnt ist, Kommandos zu erteilen, muss lernen, Hilfe anzunehmen.
Der Dokumentarfilm «Tiger und Büffel» von Fabian Biasio erzählt die Geschichte des gebürtigen Appenzellers und gelernten Sanitärinstallateurs Koller, der 26-jährig mit Frau und Kleinkind nach Japan reiste, um von den Besten zu lernen, der internationale Erfolge feierte, als Karatelehrer in Luzern zur lebenden Legende wird, sein Leben dem Kampf widmet und der plötzlich mit einem völlig unerwarteten Gegner – oder Lehrer? – konfrontiert wird: der Alzheimer-Demenz.
Sensei aus Überzeugung und Leidenschaft
Fabian Biasio: Idee und Motivation zum Film
Brunos Geschichte ist ein Stück weit auch meine Geschichte: Ich trainierte rund zehn Jahre bei Bruno Karate. So habe ich die Entwicklung von Brunos Demenzerkrankung unmittelbar miterlebt. Mich verbindet eine langjährige Freundschaft mit der ganzen Familie. Sie schätzt meine Arbeit, selbst meinen schonungslosen Blick auf Brunos Macken, die Abgründe seiner Demenz und die schwierigen Momente in der Familie.
Die ersten Aufnahmen entstanden im Jahr 2011 für die siebenminütige Multimediaproduktion «Auf den Everest», die unter anderem bei GEO online publiziert wurde. Dieses Pilotprojekt überzeugte Bruno. Er erklärte sich einverstanden, dass ich ihn weiterhin auf seiner Reise begleite. Im Jahr 2014, Brunos Zustand hatte sich bereits deutlich verschlechtert, flog er nach Taiwan an ein internationales Karatetreffen. In der Annahme, dies sei seine letzte Reise, beschlossen wir spontan, Bruno zu begleiten. Michael Hage arbeitete fotografisch, ich konzentrierte mich in erster Linie auf das bewegte Bild.
Schon damals sah ich das grosse Potenzial in der langfristigen Dokumentation von Brunos weiterem Leben: Ich wollte nicht einen Zerfall, sondern eine Wandlung dokumentieren. Das war jedoch nur mit einem grosszügigen Zeithorizont und dem Mut, das Projekt allein und zu Beginn ohne jede Förderung zu verfolgen, möglich. Nach der Reise nach Taiwan drehte ich kontinuierlich weiter und tauchte immer tiefer in Brunos Leben ein. Es entstand eine Langzeitbetrachtung eines herausragenden Menschen und eine einzigartige Chronik einer Alzheimer-Demenz-Erkrankung. aber dennoch weiterkämpft, und seine Familie über acht Jahre begleitet und daraus ein eindrückliches und informatives Dokum
Gesucht habe ich nicht nach dem Thema. Seit je drehen sich meine Arbeiten auch um Geschichten aus meinem nächsten Umfeld. Ich befinde mich selbst in der Lebensmitte oder habe die Halbzeit bereits überschritten. Man könnte sagen: Ganz naturgemäss befinde ich mich in einem Alter, in dem Männer mit Fallschirmspringen beginnen, beschliessen, den Schwarzen Gurt im Karate zu machen oder einen Film über das Älterwerden drehen.
Statt befehlen, sich helfen lassen
Ein notwendiger Film
«Tiger und Büffel» überrascht, fasziniert, verunsichert, fährt ein! Fabian Biasio hat dies mit allen Mitteln der Filmkunst und seiner engagierten Persönlichkeit geleistet. Wer über das Leben von Bruno Koller einen chronologischen Lebenslauf erwartet, wird enttäuscht. Der Film stellt uns den Karatemeister, eingebettet in seinem familiären Netz, in einem grossartigen Mosaikbild vor: immer wieder Zeit und Raum sowie die Perspektive wechselnd. Dieses Hin und Her, Vorwärts und Rückwärts entspricht, so meine ich, exakt dem impulsiven und widersprüchlichen Charakter des Protagonisten. Er war ein «Polteri» , aber auch ein sanfter Grosspapi, ein verbissener Kämpfer, aber auch ein (un)geduldig Leidender. Beim Film «Tiger und Büffel» ist wirklich, wie selten im Kino, die Form die Aussage.
In dieser Lebensgeschichte werden, nie belehrend oder dozierend, die wohl wichtigsten Aspekte der Demenz, vor allem deren Frühform, angesprochen und in der Person von Bruno verkörpert: die medizinischen, sozialen, psychologischen, gruppendynamischen, finanziellen, organisatorischen und administrativen, also die ganze menschliche und gesellschaftliche Problematik von Demenz und Alzheimer. Der Film «Tiger und Büffel» erzählt nicht einfach, er überfällt uns zum Teil wie ein Orkan und reisst uns mit oder lädt uns besinnlich ein, ihm zu folgen.
Der Film des 1975 in Zürich geborenen Filmemachers kann an gewissen Stellen vielleicht der einen oder dem andern im Publikum unter die Haut gehen, weil er herausfordert, Fragen zum eigenen Leben oder zum Leben der Nächsten wahrzunehmen und zu reagieren. Wenn ein Film solches leistet, ist er wichtig, ist er notwendig, kann er Not wenden.
Auf eine ganz andere Art und Weise wird das Thema Demenz im feinsinnigen, poetischen Spielfilm «Supernova» von Harry Macqueen behandelt. Er folgt dem Dokumentarfilm «Tiger und Büffel» in einigen Tagen in den Kinos.
Ins Meer hinaus und weg aus dem Bild
Interview mit dem Filmemacher Fabian Biasio
Dieses Interview entstand im Zusammenhang mit der Förderung des Filmprojekts «Tiger und Büffel» durch Alzheimer Schweiz: Fabian Biasio, nicht nur Filmemacher, sondern über viele Jahre Schüler des Bruno Sensei Koller in dessen Karateschule in Luzern, gelingt mit dem Film «Tiger und Büffel» ein bewegendes und zugleich schonungsloses Porträt der Alzheimer-Erkrankung. Biasio zeigt die Ecken, Kanten und Herausforderungen des Bruno Koller und seines ganzen Umfelds mit der Demenzerkrankung in einer Art und Weise, dass ein ehrlicher und Mut machender Film entstanden ist.
Warum gerade ein Film über Demenz, Herr Biasio?
Das Thema Demenz war nicht einfach per se interessant, sondern betraf mich persönlich: Bruno Sensei Koller war mein Karatelehrer und Freund. Nachdem ein Sensei nicht nur Träger eines höheren Dans (Fortgeschrittenen- bzw. Meistergrad) im japanischen Kampfsport ist, sondern viel mehr ein «Lehrer des Weges», lernte ich durch ihn einiges über Leben und Tod. Die filmische Begleitung gab mir zusätzlich einen tiefen Einblick in seine Herausforderungen und die seines Umfelds, was eine Alzheimer-Erkrankung bedeutet.
Wie äusserte sich die Demenzerkrankung des Bruno Koller?
Man könnte sagen, er erblindete sehenden Auges. Sein visueller Kortex wurde zunehmend einfach zerstört, er konnte visuelle Information nicht mehr verarbeiten. Der Sehreiz wurde nicht mehr in die richtigen Bereiche weitergeleitet, in denen das Gehirn Formen, Farben oder abgespeichertes Erlebtes erkennt. Das führte dazu, dass er sich nicht mehr richtig orientieren konnte. Bevor er anfing zu vergessen, hatte er Probleme mit dem Sehen.
Brunos Asche auf dem Appenzeller Alpstein verstreut
Sprechen wir über die Familie. Wie ist sie mit der Situation umgegangen?
Die Probleme des Umfelds und der Angehörigen im Film sind solche, in denen sich viele Familien direkt wiederfinden werden. Zum Beispiel ging es viel um das Geld oder die Zeit, sei es Freizeit oder Betreuungszeit. Und dann gab es natürlich Streit innerhalb der Familie, als alte Konflikte erneut aufbrachen. Das Wichtigste, was die Familie geschafft hatte, war meiner Meinung nach, sich immer wieder zusammenzuraufen und am gleichen Strick zu ziehen. Das ermöglichte Bruno noch lange relativ autonom zu sein, bis die Betreuung nach und nach immer intensiver wurde. Daraus resultierten neue Herausforderungen, die zu einer kurzzeitigen Erschöpfung der Familie führten. Aber nachdem alle, wie Bruno auch, Kämpfernaturen waren, haben sie mithilfe von aussen gemeinsam weitergemacht.
Ihre Erfahrung aus der Begleitung: Was kann helfen, sich durch eine Krise zu navigieren?
In Japan verwendet man in Krisen den Ausdruck «Shoganai», zu Deutsch: «Es gibt keinen Ingwer mehr», was für die japanische Küche eine Katastrophe darstellt. Übertragen bedeutet Shoganai: «Ich kann es nicht ändern, es ist jetzt halt so.» Genau diesen Umgang lebte Bruno mit seiner Demenz. Er wusste, dass es eine nicht heilbare Krankheit ist. Er ging damit um, gab den Kampf nicht auf, lebte damit. Er kämpfte und er starb mit der Demenz. Ich glaube, wenn man verstanden hat, dass man sich zu einem Zeitpunkt vom Leben verabschieden muss, dann kann man auch mit dieser Krankheit ein lebenswertes und menschenwürdiges Leben führen.
Biografie Bruno Koller – Der Meister und sein Schüler
Titelbild: Bruno Koller mit Sohn Giosuel
Regie: Fabian Biasio, Produktion: 2021, Länge: 95 min, Verleih: Mythenfilm