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Ohne Putzen geht nichts

Eine «Putzfrau» anzustellen, kommt nicht in Frage, solange ich das selber tun kann. Aber ist diese Einstellung auch sinnvoll und richtig? Antworten gibt das Buch «Wer putzt die Schweiz?». Marianne Pletscher erzählt elf Migrationsgeschichten von Reinigungskräften in der Schweiz.

Putzen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Aber wenn eine schwierige Aufgabe ansteht, stürze ich mich auf Staubsauger und Putzlappen, um auszuweichen und Zeit zu schinden. Doch für «Putzfrauen», «Reinigungskräfte» oder «Strassenwischer» ist Putzen kein Ausweichmanöver, sondern der Beruf, wenn nicht gar Berufung, wie Marianne Pletscher feststellt.

Für ihr Buch befragt sie sieben Frauen und vier Männer mit Migrationshintergrund, die motiviert und begeistert von ihrer Reinigungsarbeit und auch aus ihrem Leben erzählen. Sie putzen Privatwohnungen, Firmen und öffentliche Gebäude, doch wir kennen sie kaum, obwohl sie unter uns leben. Durch ihre Offenheit lernen wir sie mit ihren oft komplizierten und gefährlichen Migrationsgeschichten kennen und dadurch hoffentlich auch verstehen; das ist das, was sie sich wünschen. Wie jeder Mensch möchten sie von uns geschätzt werden und uns auf Augenhöhe begegnen.

Marianne Pletscher lernte Mitte der Siebzigerjahre durch einen Aufruf eine chilenische Geflüchtete kennen, von der sie erstmals noch mit schlechtem Gewissen ihre Wohnung putzen liess. Bislang war sie überzeugt, dies wäre ihre eigene Aufgabe. Doch als ihr Estelle mit leuchtenden Augen sagte «Me gusta limpiar» (Ich putze gerne) und sich vergnügt an die Arbeit machte, waren die unangenehmen Gefühle verflogen. Die Wohnung war hinterher blitzblank, und sie begriff, Putzen braucht Fähigkeiten, die ihr selbst weitgehend abgehen. Seither freut sie sich über ihre saubere Wohnung und über die ungewöhnlichen Frauen, die sie dabei kennenlernt.

Rosa ist eine von ihnen. Sie kam als 18-Jährige 1974 aus Süditalien nach Zürich. Ihr Kindergärtnerinnendiplom wurde in der Schweiz nicht anerkannt, aber sie wollte unbedingt arbeiten und fand im italienischen Konsulat eine Stelle als Putzkraft. Nach einer Privatisierungswelle wurde sie entlassen und fand an der Zürcher Goldküste bei einem älteren Ehepaar eine Stelle, von der sie noch heute traumatisiert ist. Sie durfte wohl putzen, aber weder ein Glas Wasser noch eine Tasse Kaffee trinken, und beim Essen musste sie sich mit einem Sandwich in einer Ecke verkriechen. Das Gehalt und die Sozialleistungen waren anständig, aber sie wurde wie ein minderwertiges Wesen behandelt. Seit langem putzt sie nun bei der Autorin, aber nie hatte Rosa diese Geschichte erwähnt. Nur dank dieses Buchprojekts sprach sie darüber, wenngleich es ihr schwerfiel.

Rosa lernte in Süditalien Kindergärtnerin, weil ihr Diplom nicht anerkannt wurde, putzt sie in der Schweiz

200’000 Menschen halten die Schweiz sauber, mehrheitlich Migrantinnen und Migranten. Sie arbeiten, wenn niemand sie sieht, oft abends oder nachts, nicht selten schwarz. Denn viele Anstellungen in Privathaushaltungen sind illegal, und ohne Rechte gibt es bei Krankheit meist auch keine Lohnfortzahlung.

Die Autorin stellt im Kapitel «Wo Putzen Freude macht» drei Non-Profit Vermittlungen vor, die beispielhaft zeigen, wie mit Migrantinnen und Migranten ohne gute Deutschkenntnisse fair umgegangen werden kann. Sie bezahlen gute Löhne und schliessen Verträge ab, die alle Sozialleistungen garantieren. Zudem bieten sie Reinigungskurse an, in denen die Arbeit und der Umgang mit Reinigungsmitteln, aber auch die richtige Körperhaltung geschult werden. Denn eine gute Putzkraft wird nicht nur körperlich extrem gefordert, sie muss auch planen und rechnen können und sozial kompetent sein.

Fartun aus Somalia im Deutschkurs für Reinigungskräfte

Die Organisation Etcetera wurde 1985 vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk gegründet mit inzwischen mehreren Filialen in der Schweiz. Sie vermittelt Arbeitseinsätze in Haushalt, Garten und Firmen an benachteiligte Menschen, Working Poor, Migrantinnen, Migranten und auch an Pensionierte mit geringem Einkommen. Etcetera legt grossen Wert darauf, dass die Angestellten Anspruch auf Aus- und Weiterbildung haben und persönlich betreut werden.

Sadjie aus dem Kosovo arbeitet bei Etcetera. Sie ist alleinerziehend, spricht gut Deutsch und wird von den Kundinnen und Kunden als «Sonnenschein» bezeichnet, dabei erlebte sie eine traumatische Jugend infolge der Auseinandersetzungen zwischen der Befreiungsbewegung UCK und den serbischen Streitkräften. Sich verstecken müssen und die Angst waren ihre ständigen Begleiter. Etcetera schätzt sie als flinke und zuverlässige Mitarbeiterin, dennoch muss sie noch immer um ihren Aufenthaltsstatus in der Schweiz zittern.

Pia Tschannen von proper job gründete ihre Firma 2005, nachdem sie eine Studie über die Reinigung und die prekären Arbeitsbedingungen aufgrund von Interviews mit Putzfrauen geschrieben hatte. Sie wollte beweisen, dass es auch im Niedriglohnbereich möglich ist, Leute anständig zu behandeln und existenzsichernde Löhne zu bezahlen. Heute arbeiten rund 300 Männer und Frauen dort, die sich 100 Vollzeitstellen in rund 2000 Privathaushalten teilen.

Nura aus Bosnien möchte bis zur Pensionierung für ihre Firma proper job arbeiten

Die Bosnierin Nura ist glücklich, dass sie proper job gefunden hat. Sie lebte, als der Krieg 1992 begann, in einem kleinen Dorf direkt neben Srebrenica, wo ihr Vater und drei Brüder Opfer des Genozids wurden. 2002 kamen ihr Mann, sie und die Kinder als Asylbewerbende in die Schweiz. Sieben Jahre mussten sie warten, bis sie den Aufenthaltsstatus F* für die vorläufige Aufnahme bekamen und arbeiten durften. Ihr Mann fand sofort einen Job in der Hauswartung, sie putzte in verschiedenen Firmen zu einem sehr niedrigen Lohn. Erst seit sie durch eine Bekannte zu proper job fand, kann sie 80% arbeiten und fühlt sich so wohl, dass sie bis zur Pensionierung bleiben möchte.

Das Projekt Valeriana geht viel weiter. Es will Menschen mit Migrationshintergrund eine grössere Teilnahme an der Gesellschaft ermöglichen, indem es versucht, Auftraggebende und Reinigungskräfte miteinander zu vernetzen und das Gefälle zwischen ihnen zu verringern. Gegründet wurde das Start-up 2019 kurz vor dem ersten Corona-Shutdown. Gegenwärtig arbeiten rund zwanzig Teilzeitangestellte für über 150 Privathaushalte und Büros bei Valeriana. Dank professionell durchgeführter Reinigungs- und Sprachkurse lernen sich die Mitarbeitenden auch untereinander kennen.

Embaba und ihr Mann Michael flüchteten getrennt aus Eritrea

Für Valeriana arbeitet Embaba aus Eritrea. Sie ist für ihre Kunden nicht nur die Putzfrau, sie laden sie auch wie eine Freundin zu gemeinsamen Aktivitäten ein wie etwa zum Museums- oder Zoobesuch. Von der Firma erhält sie neben dem fairen Lohn auch das Halbtaxabo für den öffentlichen Verkehr. Sie erzählt der Autorin von ihrer leidvollen und dramatischen Fluchtgeschichte. Sie kam 2017 allein in die Schweiz, ihr Mann Michael bereits 2010. Viele Details können und wollen beide nicht preisgeben. Embaba arbeitet in Privathaushalten und Michael als Sakristan in einer katholischen Kirchgemeinde und kümmert sich um alles vom Hauswart bis zum Bügeln der Messgewänder. Sie haben in der Kirchgemeinde eine Heimat gefunden. Ihr grösster Wunsch ist: «Wenn wir dann einen Schweizer Pass haben, möchten wir eine grosse Reise machen».

Alle Bilder: © Marc Bachmann, 2021 / 2022
Titelbild: Michael aus Eritrea gehört zu den arriviertesten Geflüchteten im Reinigungsgewerbe.

Marianne Pletscher / Fotografien von Marc Bachmann, «Wer putzt die Schweiz?», Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer, Limmat Verlag, Zürich 2022.
ISBN 978-3-03926-035-5

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