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Biografie eines Hauses

Die eigene Biografie mit einem Stück Weltgeschichte, einer Provinzstadt und einer Familie zu verknüpfen, braucht einen langen Atem und einen grossen Spannungsbogen. Dem in Belgien geborenen Schriftsteller Stefan Hertmans ist das mit «Der Aufgang» wunderbar gelungen.

«Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich 20 Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte». So beginnt der im Diogenes Verlag erschienene Roman «Der Aufgang», der Dokument einer dunklen Zeit der belgischen, flämischen Geschichte und Familienchronik zugleich ist.

1979 kauft der Schriftsteller Stefan Hertmans in einem der «minderen», heruntergekommenen Stadtviertel der Hafen- und heutigen Universitätsstadt Gent ein ziemlich verwahrlostes Haus. Das einstige Patrizierhaus, erkennbar an den hohen Fenstern, dem grosszügigen Treppenhaus und dem Marmorkamin im Wohnzimmer, stand seit längerem leer und hatte schon lange viel von seinem Glanz eingebüsst. Weshalb er sich auf dieses Haus einlässt, kann der Autor nicht erklären: Der mit Brackwasser vollgelaufene Keller, der Schimmel und die feuchten Flecken an den Mauern, die verstreut herumstehenden vermoderten Möbel und die Löcher im Dach können es nicht gewesen sein – «das unbekannte Leben zog mich unaufhaltsam an».

Dunkle Vergangenheit

Hertmans ahnte, als er das Haus kaufte, noch nichts von der Geschichte und den Lebensgeschichten, die sich hinter diesen maroden Mauern abgespielt haben. Kann das ein Zufall sein oder nicht doch fast Schicksal? Denn der belgische Schriftsteller hatte sich bereits einen Namen gemacht als Autor historischer Stoffe, raffiniert verknüpft mit Themen aus der Gegenwart. Aber erst, als er das Haus schon längst wieder verkauft hat, wird ihm klar, dass er in einem Brennpunkt des flämischen Nationalsozialismus während der Nazibesatzung Belgiens gewohnt hatte. Aufmerksam gemacht darauf wurde er durch die Autobiografie seines betagten Geschichtsprofessor Adrian Verhulst. Der war in diesem Haus aufgewachsen, war der Sohn des Nazi-Kollaborateurs Willem Verhulst, der einige hundert seiner Landleute an die Nazis verraten hatte, von denen die meisten dann wohl in den berüchtigten Konzentrationslagern gelandet sind.

Zwar steht das Haus in Gent im Mittelpunkt des Romans, aber Hertmans Recherche geht zuerst der Frage nach, wie aus dem ängstlichen, von Panikattacken geplagten und wegen eines Augenleidens viel verlachten kleinen Willem der Nazi- Kollaborateur werden konnte, der als SS-Offizier ohne Anflug von Mitleid oder moralischer Skrupel Landsleute in den sicheren Tod schicken konnte.

Klein, krank und verlacht

Willem war ein politischer junger Mann, in der Belgien entzweienden Auseinandersetzung zwischen Flamen und Wallonen klar auf der flämischen Seite. In erster Ehe mit einer jüdischen Bäckersfrau verheiratet, lernt er während ihrer langen, letztlich tödlichen Krankheit, die Christin Mientje kennen und gründet mit ihr eine Familie.

Dann begann die politische Tragödie der Verhulst. Willem macht unter der deutschen Besatzung Karriere und zeigt sich ohne Skrupel bereit, seine Landsleute zu verraten. Und Mien, seine Frau, ist zu einer überzeugten Pazifistin geworden. Sie spricht still das Tischgebet, nachdem ihr Mann die Mahlzeit am Familientisch mit einem zackigen Hitlergruss «geadelt» hatte. Stellt Willem im Salon eine Hitlerbüste auf den Kaminsims, schliesst sie das «Totenzimmer» ab. Lädt er Parteigenossen ein, weigert sie sich, diesen aufzuwarten. Einmal ist der Hitler im Salon nur noch ein Haufen Gips. Aber Gipsköpfe sind schnell ersetzt. Und Willem verliebt sich in eine junge Frau, die seine politische Haltung voll und ganz – und noch etwas mehr – teilt.

Wieviele dunkle Geheimnisse sich wohl noch hinter den alten Stadthäusern von Gent verbergen? (pixabay)

Es sind vor allem Willems betagte Töchter, die Hertmans ihre Tagebücher und Aufzeichnungen überlassen und ihm vom Leben dieser zweigeteilten Familie in einem ebensolchen Land erzählen. Ergänzt mit Erzählungen weiterer Zeitzeugen und Recherchen in Archiven, ist so eine literarische Aufarbeitung einer trüben Familiengeschichte entstanden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Hertmanns hat den Mut, Dinge offen oder ungesagt zu lassen, anderes mit seiner schriftstellerischen Vorstellungskraft zu ergänzen.

Stefan Hertmans: Der Aufgang. Diogenes Verlag 2022. ISBN 978 3 257 07188 7

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