StartseiteMagazinGesellschaftDer Kommunist. Die Analytikerin

Der Kommunist. Die Analytikerin

Lukas Hartmann stellt in seinen Romanen gerne historische Persönlichkeiten vor. «Ins Unbekannte» erzählt die Geschichte von Sabina und Fritz. Doch wer sind die beiden und was verbindet sie?

Sie kannten einander nicht, stammten aus verschiedenen Milieus, waren sich nie begegnet, hatten nichts miteinander zu tun. Und doch schafft es Lukas Hartmann, zwei unterschiedliche Lebensgeschichten parallel zu erzählen.

Sabina Spielrein (1885-1942) gehört zu den jungen Frauen, die mit der Diagnose «Hysterie» im frühen 20. Jahrhundert in die psychiatrische Klinik Burghölzli in Zürich eingeliefert wird. Der Vater – ein jüdischer Kaufmann aus Rostow am Don, die Mutter Zahnärztin – sind mit der Aggressivität ihrer Tochter überfordert, ebenso die russischen Ärzte. Schon als Kind ist Sabina eigenwillig und zornig, schneidet ihre kranken Puppen auf, näht sie zusammen und will Ärztin werden. Als Neunzehnjährige soll sie 1904 in Zürich geheilt werden, ihr Arzt ist Carl Gustav Jung.

Fritz Platten (1883-1942), Sohn eines Schreiners aus St. Gallen, ermöglicht Lenin 1917 die Rückkehr im plombierten Zug nach Russland. Als überzeugter Kommunist emigriert er, wie viele seiner Genossen, in die Sowjetunion, wo er eine neue, gerechtere Welt mit aufbauen will. Doch Stalins Regime wird zusehends diktatorisch, jeder misstraut jedem. Auch Fritz gerät ins Visier und wird ins Arbeitslager gesteckt. Hier setzt Lukas Hartmanns Erzählung mit Rückblenden auf Plattens Vergangenheit ein.

Im Burghölzli sind sie anfänglich mit der schwierigen Sabina ebenso überfordert und fesseln sie ans Bett. Durch die Therapiegespräche mit dem Oberarzt Jung kann sie sich allmählich entspannen und zur Unterstützung der Therapie mit ihm Spaziergänge machen. Einmal geraten sie in eine vom jungen Fritz Platten angeführte Demonstration, so der Roman. Sabina ist idealistisch, kennt die ärmlichen russischen Verhältnisse und ist überzeugt, es müsste sich in der Gesellschaft etwas ändern.

Der Strafgefangene. Die erste Psychoanalytikerin

Fritz Platten, seit 1941 im Straflager Lipowo, stellt seit Monaten Schindeln her und hat Zeit, über sich und seine Situation nachzudenken. Immer wieder holen ihn alte Geschichten ein, etwa die Erinnerung an seinen Rivalen Robert Grimm. 1918 gehörten sie beide zum Streikkomitee, Fritz wollte aufs Ganze gehen, Robert, um Blutvergiessen zu vermeiden, brach den Landesstreik ab. Platten sieht sich selbst als konsequenten Kämpfer für die gute Sache, aber Grimm als angepassten Sozialdemokraten, der in der Gesellschaft gut ankommt und Karriere macht.

Sabina gilt im Frühjahr 1905 als geheilt, beginnt in Zürich das Medizinstudium und darf als Studentin die Arztvisiten im Burghölzli begleiten. Anstelle der Therapiegespräche finden nun regelmässig Mitarbeitergespräche statt. Was nicht sein darf geschieht, Jung und Sabina verlieben sich. Er, durch Publikationen bereits bekannt und Familienvater, sie, eine junge, intelligente Studentin. Ein Skandal kann rechtzeitig abgewendet werden, Jungs Mentor Sigmund Freud wird einbezogen, und das Paar trennt sich.

Bedingt durch ihr Studium verkehren sie nur noch schriftlich, er hat inzwischen eine Privatpraxis gegründet. 1911 schliesst Sabina Spielrein als erste Frau mit einem psychoanalytischen Thema ab, geht nach Wien, wo sie Sigmund Freud persönlich kennenlernt. 1912 heiratet sie den russisch-jüdischen Arzt Pawel Scheftel in Berlin. Ein Jahr später kommt die gemeinsame Tochter Renata zur Welt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs tritt ihr Mann in sein Kiewer Regiment ein, Sabina lebt mit ihrer Tochter bis 1921 in Lausanne und Genf, wo sie als Ärztin arbeitet.

1942 – Opfer der Sowjets, Opfer der Nazis

Beim Schindeln machen kehrt Fritz Platten in Gedanken in die Kolchose Nova Lava zurück. Zusammen mit seiner Frau Berta Zimmermann und etwa zwanzig Schweizer Auswanderern hat er 1923 mit viel Herzblut die landwirtschaftliche Genossenschaft gegründet. Doch mangels Erfahrung zerfällt das Projekt nach zwei Jahren. Fortan lebt Platten in Moskau und unterrichtet am Internationalen Agrarinstitut. 1938 wird er verhaftet, als Spion verurteilt und ins Straflager Lipowo deportiert. Von seiner Frau Berta fehlen jegliche Nachrichten, erst durch einen neuen Häftling erfährt er, dass sie bereits 1937 erschossen worden ist. Bis zum Schluss bleibt Fritz der festen Überzeugung, dass er, der Lenin während der Revolution das Leben rettete, Opfer eines Missverständnisses ist. Doch Stalin lässt Platten präzise an Lenins Geburtstag, am 22. April 1942, erschiessen.

Sabina Spielrein kehrt 1923 mit ihrer Tochter in das inzwischen sowjetische Russland zurück. In Rostow am Don lebt sie wieder mit ihrem Mann zusammen. 1926 kommt die zweite Tochter Eva zur Welt. Nachdem die Sowjets 1929 die Psychoanalyse verbieten, arbeitet sie als Pädologin mit Kindern, als 1937 auch dies verboten wird, als Ärztin und publiziert daneben Aufsätze für westliche psychoanalytische Zeitschriften. Beim zweiten deutschen Überfall auf die Sowjetunion wird Rostow im Juli 1942 eingenommen. Etwa 25’000 dort lebende Jüdinnen und Juden werden am 11. und 12. August 1942 zur Smijowskaja Balka (Schlangenschlucht) getrieben – darunter auch Sabina Spielrein und ihre 29- und 16-jährigen Töchter Renata und Eva – und dort erschossen.

Titelbild: Ausschnitt aus dem Coverbild

Lukas Hartmann, Ins Unbekannte. Die Geschichte von Sabina und Fritz. Diogenes Verlag, Zürich, 2022. ISBN 978 3 257 07205 1

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