In Thusis finden zum 32. Mal die Weltfilmtage statt, ein kleines feines Filmfest in der Provinz, welches auch grossen Ansprüchen genügen will.
An sechs Tagen werden normalerweise rund 40 Filme aus aller Welt präsentiert. Das Spektrum umfasst gesellschaftskritische Filme zu Klimawandel und Brennpunkten der Weltpolitik, aber auch Komödien oder Krimis und Animationsfilme. Ausschlaggebend, 1991 am Fuss der Alpen ein Filmfestival zu organisieren, war das «Fest der internationalen Solidarität», welche im Rahmen der 700 Jahr-Feier der Schweizerischen Eidgenossenschaft stattfand.
Filmstill «Utama» von Alejandro Loayza Grisi. Bolivien 2022
Seit einer langen Zeit leuchtet ein rotes Schild von einer grauen Hauswand oben in die Gasse, wo früher die Stallungen der Pferdewechselstation Thusis waren. Gut sichtbar von der Neudorfstrasse aus, in deren Gasthöfen die Reisenden einst Pause machten, steht da Kino. Es ist das Schild des Kino Rätia, dessen Name keine Rolle spielt, Hauptsache man weiss, wo der Film abgeht.
1987 waren die Tage des Rätia gezählt, das langjährige Betreiber-Ehepaar hatte altershalber an einen Kinobetreiber aus Chur übergeben, aber der wollte kurz darauf ganz schliessen. So wenig wie die Thusner auf ihre Buchhandlung Kunfermann verzichten mochten, so sehr bemühten sie sich um das Kino. Jeweils mit Spenden, mit Trägerverein, mit viel Enthusiasmus und Freiwilligenarbeit.
Weltfilmtage Thusis – das Logo
Heute programmiert die Kinoleitung regelmässig Studiofilme und Familienprogramme, auf der Bühne finden Konzerte und Lesungen statt, das Seniorentheater der Region hat seine Spielstätte. Thusis ist nicht nur Ausgangspunkt für Sport im Sommer und Winter, oder Zentrumsort der Region mit Ämtern, Detailhandel und Supermärkten, sondern ein Kulturzentrum für die Bevölkerung der Viamala-Gegend und deren Gäste.
Nun stehen zum 32. Mal die Weltfilmtage vom 1. bis zum 6. November an: Dem noch immer in den Schweizer Filmmetropolen Locarno oder Zürich kaum bekannten Filmfest in Thusis ist es ein Anliegen, das Filmschaffen abseits des Mainstream-Kinos zu fördern und zu zeigen. Aber auch die Weltfilmtage finden nur dank Unterstützung statt. Nebst öffentlicher Gelder gibt es den Förderverein Weltfilmtage Thusis, der jederzeit Mitglieder aufnimmt. Mit 40 Filmen aus vier Kontinenten innerhalb von sechs Tagen zeigen die Weltfilmtage Thusis diesmal wieder ein Programm von der Grösse, wie sie vor der Pandemie üblich war. Hier ein paar Highlights.
Filme aus der Ukraine: Den direktesten Bezug auf den derzeitigen Krieg Russlands gegen die Ukraine nimmt der Film Klondike, der dieses Jahr an unzähligen Festivals auf der ganzen Welt gezeigt und ausgezeichnet wurde.
Filmstill «Klondike» von Maryna Er Gorbach, Ukraine 2022
Er spielt 2014 nahe der russischen Grenze; in der Region Donezk, die zum Teil bereits von Russland annektiert wurde. Dort leben Irka und ihr Mann Tomik ein einfaches Leben als Landwirte und warten auf die Niederkunft ihrer ersten Tochter. Doch bereits in der ersten von vielen langen, ungeschnittenen Einstellungen zerreisst eine Granate die Wand ihrer Stube. Dadurch wird der Blick frei auf die nahe Front, die sich auch mitten durch Familien zieht. Nachbarn, Schwägerinnen und Geschwister teilen sich unversöhnlich auf in Separatisten und ukrainische Patrioten. Vor den Augen der jungen Eheleute spielt sich in der Folge eine grausame Parabel über den Krieg ab. Mittendrin Irka, die sich bis zum bitteren Ende stur weigert, ihr Haus zu verlassen. Die Geburt ihrer Tochter inmitten von Kriegstrümmern bleibt denn auch der einzige Hoffnungsschimmer im Film. Der Film wurde von der Ukraine ins diesjährige Oskarrennen geschickt.
Filmstill «Olga» von Elie Grappe. Schweiz 2021 (ab 12 Jahre)
Der beste Schweizer Spielfilm des vergangenen Jahres war Olga des Westschweizers Elie Grappe. Er erzählt die Geschichte der ukrainischen Kunstturnerin Olga, die in Kiew bei ihrer Mutter lebt und trainiert. Nur knapp entkommen die beiden einem Anschlag auf die Mutter, die als Investigativjournalistin gegen den korrupten Staatspräsidenten recherchiert. Olga wird danach aus Sicherheitsgründen in die Schweiz geschickt, wo sie im Leistungszentrum Magglingen trainieren kann. Eine Rückkehr kommt nicht in Frage. Die Realität hat die Fiktion im Fall der jungen Hauptdarstellerin in der Zwischenzeit eingeholt. Anastasia Budiashkina, selber eine talentierte Turnerin, hat ihr Heimatland wegen des Kriegs auch verlassen müssen und lebt im polnischen Exil.
Filme aus dem Iran: Seit Jahren existiert im Iran eine lebendige Filmszene, die es immer wieder schafft, die strenge Zensur im islamistischen Gottesstaat auszutricksen. Beispiel einer solch vordergründig harmlosen Geschichte ist The Apple Day von Mahmoud Ghaffari.
Filmstill «The Apple Day» von Mahmoud Ghaffari, Iran 2022
Der Erstklässler Mahdi verspricht seinen Lehrerinnen und der Klasse einen Korb voller Äpfel für den Tag, an dem der Anfangsbuchstabe für Apfel in Farsi an der Reihe ist. Kein Problem, denn schliesslich verkauft seine Familie als fahrende Händler Früchte in einem Teheraner Vorort. Kurz darauf wird allerdings ihr Lastwagen gestohlen, was den versprochenen Apfelkorb in weite Ferne rückt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Mit der scheinbar einfachen Geschichte vom Jungen, der losrennt, um Äpfel aufzutreiben, liefert Mahmoud Ghaffari ein eindrückliches Bild des korrupten, patriarchalen und heimtückischen Systems, das im Iran vorherrscht. Regisseur Mahmoud Ghaffari wird in Thusis persönlich für ein Filmgespräch anwesend sein.
Filmstill «Tattoo Your Dreams» von Mehdi Ganji, Iran 2021
Der Dokumentarfilm Tattoo Your Dreams erzählt vom iranischen Fussballeifer und der grossen Chance für Teenager aus armen Familien: Wer sich qualifizieren kann, darf nach Spanien an die Fussball-Akademie. Aber auch die Reise der Auserwählten wird zur zermürbenden Herausforderung.
Filme aus Schweizer Produktion: Caterina Mona hat ihre fremde Welt gleich hier entdeckt, indem sie das Leben einer eritreischen Mutter mit Teenager-Tochter als Flüchtlinge dokumentiert. Die Regisseurin wird über ihren berührenden Film Semret sprechen.
Filmstill «Delhi Dreams» von Christof Schaefer und Yamini Deen, Schweiz 2020
In Dehli Dreams stellen Christof Schaefer und Yamini Deen Indiens grössten Artisten-Slum in der Mega-City Dehli ins Zentrum und zeigen, was die Pläne der Regierung, das pulsierend lebendige Kreativ-Zentrum abzureissen und die Bewohner in Hochhäuser umzusiedeln bedeutet. Auch dazu ist ein Filmgespräch geplant.
Blick ins Bistro des Kinos Rätia
Was wären Filmtage ohne spannende Gespräche mit Gästen aus der Branche, aber erst recht braucht es Orte und Zeiten Erholung, wo sich bei einem Imbiss oder einem Getränk über Filme reden lässt. Beispielsweise beim traditionellen «Apéro aus aller Welt «, präsentiert von Migrantinnen, oder jenem des Claro-Ladens, einem der Sponsoren, oder auch beim Eröffnungsapéro zur Fotoausstellung 75 Jahre HEKS am 1. November. Das Hilfswerk HEKS ist diesmal Gastorganisation der Weltfilmtage. Manche der Filme zeigen ein kleines Stück Armut und Elend irgendwo auf der Welt, kein plakativer Spendenaufruf, aber doch ein leiser Wink.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde das HEKS gegründet. 24 Fotos zeigen in Thusis Momente aus 75 Jahren Hilfswerk
Vielleicht passt hier der Hinweis auf den Film Utama von Alejandro Loayza Grisi aus Bolivien, der die unausweichlichen Folgen der Klimaveränderung mit einem alten Quechua-Ehepaar zeigt: Ihre Lebensgrundlage ist Maisanbau und Viehzucht, aber das Wasser versiegt. Der Verlust des Lebensraums ist abzusehen, doch die alten Leute mögen dem Ruf des Sohns und des Enkels in die Stadt nicht folgen, das wäre für sie ein Verrat am Sinn des Lebens.
Titelbild: Filmstill aus «107 Mothers» von Peter Kerekes, Ukraine 2021: Bis dreijährig dürfen Kinder im Frauengefängnis Odessa bei der Mutter bleiben, danach heisst es Waisenhaus.
Links für einen Besuch der Weltfilmtage vom 1. bis 6. November 2022 in Thusis:
weltfilmtage.ch/
kinoraetia.ch/
Aufenthalt in Thusis und Umgebung
Seniorweb-Film-Kritiker Hans-Peter Stalder hat folgende in Thusis programmierten Filme besprochen:
107 Mothers
Utama
Olga
The Apple Day