In der Karwoche führen zwei Prozessionen durch das Tessiner Dorf. Seit 2019 zählt der Brauch zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO. Er ist eine Mischung aus populärer Religiosität, Mystik, Theatralik und Kunst. René und Elisabeth Bühler haben die faszinierenden Prozessionen mit der Kamera begleitet.
2023 fallen der Gründonnerstag und der Freitag auf den 6. und 7. April. An den beiden Abenden führt Mendrisio zwei unvergleichliche Schauspiele auf: den Gang Christi zum Kalvarienberg am Gründonnerstag und die Grablegung Christi am Karfreitag.
In der Garderobe: Nicht bequem, aber eine Ehre, wenn man eins der wertvollen Kostüme tragen darf.
Die Altstadt ist prächtig geschmückt mit leuchtenden Transparenten aus dem 18. Jahrhundert, die an Torbögen, von den Fenstern herabhängend oder an den Balkonen der Häuser angebracht werden. Die Trasparenti, Szenen aus dem Evangelium zeigend, tauchen die engen Gassen in ein sanftes Licht. Einige davon sind über hundert Jahre alt. Der Brauch sei rund vierhundert Jahre alt, sagt der heute zuständige Verein.
Fanfarenbläser hoch zu Ross kündigen den Zug mit den Verurteilten an.
Bei der Prozession vom Gründonnerstag, der Fundziun di Giüdee, spielen Dutzende von Laiendarstellern die Leiden Christi in einer Reihe von Szenen nach. Die Jungfrau Maria, Maria Magdalena, die wehmütige Veronika, die das Leichentuch zeigt, die mitverurteilten Diebe, die römischen Soldaten und die Juden folgen Jesus Christus auf seinem Leidensweg durch die Stadt.
Der Christusdarsteller hat es selbst beim Rollenspiel schwer.
Sechs Mal bricht Jesus auf der Strecke zusammen. Das Volk treibt ihn immer weiter. Der Darsteller von Jesus Christus wird jeweils per Losentscheid bestimmt. Der Tradition folgend bleibt sein Name bis nach der Prozession geheim. 
Oben: die verurteilten Diebe, die neben Christus ans Kreuz geschlagen werden; unten: römische Krieger beim Würfelspiel.
Die Prozession vom Karfreitag, auch Enterro genannt, ist wahrscheinlich älter als die des Gründonnerstags. An ihr beteiligen sich Mitglieder verschiedener Bruderschaften und kirchlicher Vereine. Sie tragen Barockfiguren des toten Christus und der schmerzensreichen Muttergottes durchs Dorf. Diese Figuren zieren normalerweise den Altar der Kirche San Giovanni.
Die Karfreitagsprozession ist traditioneller: der Schmerzensmann aus der Kirche San Giovanni Battista wird durch die Strassen getragen.
Viele Kinder laufen beim Umzug mit, alle in lange, weisse Gewänder gehüllt. Sie tragen mit Kerzen beleuchtete Lampions und Laternen in verschiedensten Formen sowie Kreuze und Gegenstände der Passion.
Die schmerzensreiche Muttergottes aus der neubarocken Kirche San Giovanni Battista bei der Prozession am Karfreitag.
Alle Mitwirkenden der beiden Prozessionen sind in prächtige Kostüme gekleidet, die einst aus dem Fundus der Mailänder Scala erworben werden konnten. Wegen des historischen Werts der Kostüme und Requisiten werden die Schauspiele bei Regen abgesagt.
Ein Zug mit Laternen, bemalt mit Szenen der Passionsgeschichte .
Aber 2023 gibt es weder Einschränkungen wegen einer Pandemie, noch Regenwetter. Die vielen Laien, die sich während des ganzen Jahrs und erst recht in den letzten Wochen auf den Grossanlass vorbereitet haben, können es kaum erwarten.
Weniger szenische Aufführung als am Gründonnerstag ist die eindrückliche Prozession am Karfreitag: Kinder tragen das Kreuz.
Beide Prozessionen beginnen jeweils um 20.30 Uhr bei der Kirche San Giovanni. Wer nicht am Strassenrand warten mag, kann im Zentrum von Mendrisio einen der kostenpflichtigen Tribünenplätze reservieren. Für Interessierte werden auch Führungen veranstaltet, bei denen unter anderem in die spezielle Maltechnik der Transparente eingeführt wird.
Die Prozession folgt traditionellen Riten. Im Hintergrund sichtbar eins der leuchtenden Transparente.
Titelbild: Die Figur des Gekreuzigten aus der Kirche San Giovanni Battista bei der Karfreitagsprozession
Fotos © René und Elisabeth Bühler
Hier geht es zur Website der Karwochenprozessionen in Mendrisio
Hier gibt es Hinweise zum Aufenthalt im Mendrisiotto
Vielen Dank für das Bekanntmachen dieser immateriellen Kultur im Tessin.
Es hat Platz in unserem Leben. Ist das Gegenstück vom «Unser Vater» Filmportrait, ist leider noch immer in Erinnerungen gegenwärtig und spürbar, gerade durch das Schweigen.