Einige, meist junge Frauen, arbeiten als Feigenpflückerinnen und unterhalten sich im Schatten der Bäume über die Liebe, das Schicksal und ihre Welt. Die französisch-tunesische Regisseurin Erige Sehiri schildert in «Under the Fig Trees» realistisch und poetisch die Kraft und Schönheit von Frauen in einer Gesellschaft im Wandel. Ab 4. Mai im Kino.

Sie heissen Fidé, Sana, Melek, Meriem oder Leila. Einige sind sehr jung, manche älter. Sie haben sich versammelt, um gemeinsam die Sommerernte der Feigen einzubringen. Zusammen mit ein paar männlichen Kollegen sitzen sie auf der Ladebrücke des Pick-ups, der sie zur Obstplantage bringt. Den Fahrer sprechen sie alle mit Chef an. Ihre Arbeit erfordert Geschick und Feingefühl, die reifen Früchte müssen schnell gepflückt werden, ohne sie zu fest anzufassen und ohne dabei die fragilen Äste zu verletzen. Mit Klemmstangen greifen sie nach Zweigen oder klettern ins Geäst, um die kostbaren Früchte mit der nötigen Sorgfalt in Eimer zu legen und später in Kisten zu schichten. Während sie sich ein paar Dirham verdienen, die der Chef ihnen hoffentlich bezahlen wird, unterhalten sie sich im Schatten der Bäume über die Liebe, teilen Erinnerungen und Hoffnungen und stellen sich Fragen zum «Mektoub», dem Schicksal. Einige flirten offenkundig, andere streiten sich wild durcheinander.

Drei Frauen – im richtigen Leben drei Schwestern – treten besonders in den Vordergrund. Die junge Fidé ist immer wieder damit beschäftigt, ihren Schal zu bändigen, der sich im Wind wie eine heldenhafte Figur im Kampf gegen eine patriarchale Welt aufbäumt: eine Welt, über die sie sich keinerlei Illusionen macht. Sana verwendet ihre ganzen Verführungskünste, um einen jungen Mann zu erobern, in den sie sich gerade zu verlieben scheint und den sie sich im Grunde viel konservativer wünschen würde, als eifersüchtige junge Frau und Partnerin in spe wäre das beruhigend. Melek ist hoch erfreut, ihre Jugendliebe Abdou wieder zu treffen, der zur Feigenernte in die Heimat zurückgekehrt ist, nachdem seine Familie in die Nähe von Monastir gezogen ist, eine Region, die besonders unter der Wirtschaftskrise leidet.

Abdou und Melek

Den Film als Musik wahrnehmen

Die Laiendarsteller:innen, vor allem junge Frauen, einige Burschen und ein paar alte Frauen und Männer repräsentieren einen Teil der heutigen tunesischen Gesellschaft und berichten von ihren amourösen Abenteuern, aber auch vom Wandel im Land, der Werte und Traditionen aufeinanderprallen lässt. Soweit die spontan erzählte Geschichte. Doch eigentlich bildet diese nur die Oberfläche, sozusagen das dramaturgische Gerüst für eine innere, tiefere, eine essenzielle Geschichte über das Leben allgemein. «Under the Fig Trees» ist für mich ein künstlerisches und menschliches Ereignis, ein filmisches Bijoux! Vielleicht erleben wir den Film mit grösserem Gewinn, wenn wir ihn wie Musik lesen, verstehen und wahrnehmen.

Die Gespräche zwischen den Frauen und Männern, den Jungen und Alten kommen bei mir von Episode zu Episode, von einem Satz zum andern Satz an wie wunderbare Musik, die von Dur zu Moll und wieder zurück wechselt, die beispielsweise von einem Largo zu einem Andante, von einem Allegro zu einem Presto gleitet und sich einmal con fuoco, dann giocoso, dann moderato äussert. Nicht zwischen den Zeilen, sondern zwischen den Feigen spielt alles, was den Film und uns bewegt und den Alltag zu reiner Poesie verwandelt. Die Stimmungen, Harmonien, Bewegungen und Tempi des Films lassen uns, wie in grossen Werken der Musik, in die Stimmungen, Harmonien, Bewegungen und Tempi des Lebens einschwingen. Dahin führen uns die Gespräche, das Flüstern, die Dispute und Streitigkeiten, das Schwärmen, das Sehnen und Hoffen. Wie die Filmemacherin Erige Sehiri dies fertigbringt, bleibt mir ein Geheimnis, dazu kann ich nur Vermutungen anstellen.


Blicke und Gesten sprechen wie tausend Worte

Aus einem Interview von Raphaël Chevalley mit der Regisseurin Erige Sehiri

Auf die Frage, wie der Film entstanden sei, meint die Regisseurin: «Ich kam mit Fidé ins Gespräch, als ich im ländlichen Nordwesten Tunesiens Plakate für ein Casting an die Wände eines Gymnasiums klebte, weil ich einen Film über Jugendliche drehen wollte, die Radio machen. Sogleich war ich von ihr begeistert, obwohl sie am Casting gar nicht besonders interessiert war. Sie nahm schliesslich daran teil und im Laufe des Gespräches fragte ich sie, was sie den Sommer über so mache, worauf sie mir erklärte, dass sie auf dem Feld arbeiten werde und mir anbot, sie während eines Arbeitstages zu begleiten. So besuchte ich die Frauen bei der Arbeit. Dort fasste ich den Entschluss, mein Filmprojekt komplett umzukrempeln. Die Feldarbeiterinnen beeindruckten mich. Ich unterhielt mich mit ihnen über ihren Alltag und die Arbeit, ihr Verhältnis zu den Männern und zum Patriarchat. Es gab so viel Material! Ich wollte diesen normalerweise unsichtbaren Arbeiterinnen ein Gesicht geben.»

Auf die Feststellung, ihre Aufmerksamkeit liege stark auf den Gesten, sie achte auf jede Regung, antwortete Erige Sehiri: «Das hat mit meiner Erfahrung als Dokumentarfilmerin und meinem Interesse für den Platz zu tun, den die Arbeit in unserem Leben einnimmt. Aber auch mit dem Gegenstand dieser Arbeit: Man darf die Feigen nicht mehrmals berühren, sie verderben sehr schnell. Die Ernte muss präzis und schnell sein. Zuweilen filmte ich längere Arbeitsphasen, während derer die Arbeitenden meine Anwesenheit vergassen. Da alle auf dem Feld arbeiteten, waren ihre Bewegungen sehr natürlich, ich musste ihnen nichts beibringen. Ich mochte die Eleganz ihrer Gesten.»


Social Media unter Feigenbäumen

Spiel als Dokument – Dokument als Spiel

Die intimen, nie indiskreten Bilder stammen von Frida Marzouk. Mit der akustischen Atmosphäre hüllt uns der Tonmeister Aymen Laabidi in das Gefühl ein, wir würden den Tag mit diesen Frauen unter den Feigenbäumen verbringen. Vielleicht führten die eingestreuten Klänge von Amine Bouhafa mich dazu, den ganzen Film als Musik wahrzunehmen. Vielleicht sind es die Lieder, die mich entführten. Die Regisseurin dazu: «Als ich zu schreiben begann, hörte ich von Morgen bis Abend «L’Estaca», ein Protestlied aus der Franco-Zeit. In seiner tunesisch-arabischen Version handelt das Lied von der Arbeit, der Liebe und die Freiheit.» Oder ist es das Lied, das Leila im Film vorträgt, das mich entführte? «Es handelt von der Liebe, dem Schmerz und der Mutter: ein traditionelles Klagelied. Beim Drehen dieser Szene mussten die Darsteller:innen und sogar die Mitglieder der Crew weinen. Das ist wohl auch der Sinn der Lieder, sie sollen erlösen vom Leid und den unausgesprochenen Gefühlen.» Vielleicht ist das, was beim Dreh geschehen ist, hinübergesprungen in die Worte, Sätze, Gesten, Bewegungen, Blicke, die jetzt den Film ausmachen.


Mit dem Zahltag kommt der Alltag zurück

Kunst – Poesie – Freiheit

Auf diese Weise uns dem Film nähern, offenbart, was grosse Kunst immer macht: Das Spiel wird Dokument, das Dokument Spiel. Wie trivial ist doch die Einteilung in Dokumentar- und Spielfilm, wenn man sich wirklich der Kunst nähert. Da hilft Picassos «La nature existe, ma toile aussi» weiter. Denn Poesie, was dieser Film wohl unbestritten ist, erschafft stets eine neue, andere Welt.

Das Lied, das die Mädchen am Ende singen, ist eine augenzwinkernde Anspielung auf tunesische Volkslieder. Der Text ist witzig und frech. Sie lachen darüber. Der alte Mann auf dem Rücksitz lächelt verlegen. Die Worte sind doppeldeutig, haben eine sexuelle Konnotation. Solche Lieder werden oft vor der Hochzeitsnacht gesungen, sagt die Regisseurin. Wie hier wirkt Musik in allen Kulturen als Befreiung. Als sich die Frauen am Ende schminken, trällern sie einen libanesischen Song und befinden sich an der Schnittstelle verschiedener Kulturen: als Fiktion und als Dokument.

Titelbild: Leila, meistens fröhlich gelaunt

Regie: Erige Sehiri, Produktion: 2022, Länge: 92 min, Verleih: trigon-film