Georges Bizets (1838–1875) Meisterwerk «Carmen» gehört zu den meistgespielten Opern. Alles, alles haben wir regiemässig schon erlebt: realistisch, folkloristisch, minimalistisch, puristisch, soziokritisch, feministisch… Andreas Homoki stellt sich dieser heiklen Aufgabe mit einer verschlankten Regiearbeit.
Wir blicken in einen leeren Raum, eingefasst von dunklen Backsteinmauern, an der Rampe ein muschelförmiger Souffleurkasten: Abbild der Bühne der Pariser Opéra Comique. Die geschichtsträchtige Spielstätte ist in Zürich Programm für Regie und Ausstattung, so wie sie Andreas Homoki mit seinem Team – Paul Zoller (Bühnenbild), Gideon Davey (Kostüme) und Franck Evin (Licht) – bereits 2023 für Paris geschaffen hat.
Im Gegensatz zu diesem tristen Anblick schallt uns aus dem Orchestergraben Anderes entgegen. Bereits die ersten Takte der pulsierenden Eingangsmusik lassen aufhorchen, und der erste Eindruck bestätigt sich während des Abends.
Die leere Bühne, derer der Pariser Opéra Comique nachempfunden, mit Carmen (Marina Viotti), Don José (Saimir Pirgu), Escamillo (Lukasz Golinski) und Micaëla (Natalia Tanasi). Alle Bilder Opernhaus Zürich/Monika Rittershaus)
Unter der Leitung von Gianandrea Noseda bringt die Philharmonia Zürich den unwiderstehlichen Sog von Bizets Musik und deren sinnliche Körperlichkeit zum Blühen und Glänzen. Trotz bestechender Detailarbeit bezüglich solistischer Profilierung einzelner Instrumente oder Instrumentengruppen bleibt der grosse Bogen gewahrt. Nie wirkt der vorwärtsdrängende Zug übersteuert, vielmehr erlaubt er das Auskosten des melodischen und harmonischen Reichtums, pflegt die exquisite Abstufung der Dynamik, begünstigt das organische Atmen und Agieren mit den Sängern.
Ungewohnte Einstiegsszene
Zur Reprise des Eingangsthemas erscheint ein junger Mann in Alltagskleidern auf der Bühne. Suchend tappt er im Kreis, entdeckt einen am Boden vergessenen Klavierauszug und vertieft sich darin. Als im Dunkel zudem drei historisch gewandete (Theater-)Figuren auftauchen – Carmen, Micaëla, Escamillo – schlittert er unversehens – oder vielleicht auch einem inneren Zwang folgend? – in die Geschichte hinein, die das Librettisten-Duo Henri Meilhac und Ludovic Halévy aus Prosper Mérimées literarischer Vorlage, der Novelle «Carmen» (1845), destilliert haben.
Statt Soldatenchor Grossbürgertum aus der Zeit um 1875, das mit dem Publikum in Zürich interagiert.
Anstelle des üblichen Soldatenchors entert nun das grossbürgerliche Opernpublikum von damals, 1875, die Bühne – Herren in Cutaway und Zylinder, Damen in Roben mit Cul-de-Paris. Das Licht im Saal geht an, die Sänger zeigen auf uns, die heutigen Zuschauer, und machen uns so zu jenen Gaffern und Müssiggängern, die der Eingangschor beschreibt: «…drôles de gens que ces gens-là!»
Zeitsprünge
Der 3. Akt spielt im Mauergeviert des Bühnenraums, in dessen Mitte sich das Schmugglergut türmt. Dazu evozieren die Kostüme die Kriegsjahre um 1940; die Bourgeoisie – das heisst der ausgezeichnet singende und agierende Chor (Einstudierung: Janko Kostelic) – hat sich der Kontrabande und der Résistance verschrieben.
Don José im Lager der Schmuggler.
Noch zügiger mutiert das Ensemble für den 4. Akt zu einer aufgekratzten Spassgesellschaft der 1960er Jahre, um dem erfolgreichen Torero zuzujubeln. Das gemeine Volk verfolgt das blutige Ritual auf dem Platz vor der Arena auf einem Vintage-TV-Gerät mit ausgefahrener Antenne, jubelt, schmeisst Konfettis und Luftschlangen. Entsprechend zelebrieren die Kostüme den biederen Chic der Sixties.
Diese Zeitsprünge werden durch unterschiedliche Vorhänge strukturiert. So senkt sich jeweils ein rotgoldener Brokatvorhang und schafft Theateratmosphäre. Er wird sich im Lauf des Abends häufig schliessen und öffnen, um die Szenen zu gliedern. Für die Schenke kommt ein grauer Vorhang dazu, und schliesslich, für die Fiesta und Corrida am Schluss, noch ein dritter, nachtblauer mit Paillettenbesatz.
Don José in Bedrängnis. Sie werden ihnbis auf die Unterwäsche ausziehen.
Den naiven José erwartet weiteres Ungemach: Statt die traditionelle Wachablösung zu parodieren, nimmt eine Horde frecher Rangen den jungen Mann aufs Korn, entreisst ihm den Klavierauszug und zieht ihn bis auf die Unterwäsche aus. So manövrieren die Kinder den Hilflosen endgültig in die Rolle des unglücklichen Brigadiers, der wohl oder übel in die Militärklamotten steigen muss, die ihm der Chor maliziös bereithält.
Wandelbare Carmen
Damit ist sein Schicksal besiegelt, das nun in Gestalt Carmens auftritt. Ihr leiht Marina Viotti aufregende Gestalt und Stimme. In ihrer Habanera und später in der Séguedille verzichtet sie auf erotisches Gurren, sondern lässt ihren gerundeten Mezzosopran frei fliessen, setzt bedeutungsvolle, aber nie übertriebene Akzente und vertraut auf die Verführungskraft eines delikaten Pianos. Umwerfend, wie sie mit ihrem Trällern nicht nur José, sondern auch dessen Vorgesetzten, dem gockelhaftem Zuniga (Stanislav Vorobyov) den Kopf verdreht. Eine andere, unheimliche Facette ihres schillernden Wesens offenbart sich im fatalen Kartenterzett, wo sich ihre jetzt betont dunkel verschattete Stimme mit den unterschiedlich hell timbrierten Stimmen von Mercédès (Niamh O’Sulliva) und Frasquita (Uliana Alexyuk) paart. Und noch einmal anders, nämlich als verliebtes Mädchen, erscheint sie im Schmugglerquintett, wo sich der vorlaute Remendado (Spencer Lang) und der grossspurigen Dancaïro (Jean-Luc Ballestra) zu den drei Frauen gesellen.
Carmen und Don José. Sie wird ihm – und anderen – den Kopf verdrehen.
Chancenlose Gegenspielerin ist Natalia Tanasii als Micaëla. Mit ihrem klaren, leuchtenden Silbersopran signalisiert sie Entschlossenheit und Mut. Die Übergriffe der Männer, vorab des anzüglichen Moralès (Aksel Daveyan) wehrt sie mit einem gut platzierten Stoss in dessen heikelste Stelle ab. Und der «scheue» Kuss, den sie José zusammen mit dem Brief von der Mutter überbringt, fällt sehr heftig aus, und das gleich zweimal … .
Derart fein gearbeitete Details sind eine der Qualitäten von Homokis Personenführung. So kann getrost auf spanisches Kolorit verzichtet werden. Einzig Escamillo, der Matador, gibt sich spanisch mit seiner Tracht. Lukasz Golinski erfüllt die Klischees des machohaften Arenastar mit ausladendem, stentorhaften Bassbariton, was gut zur Rolle passt.
Überzeugender Don José
Differenzierter präsentiert sich Saimir Pirgu als Don José. Seine intensive Bühnenpräsenz geht einher mit einer stimmlichen Souveränität, die ungestüme Leidenschaft und intime Verletzlichkeit zu vereinen versteht. Der wissende Sänger überzeugt in leidenschaftlichen Forte-Ausbrüchen gleichermassen wie in anrührenden Piano-Phrasen. Beispielhaft etwa die geniale Szene im Widerstreit zwischen Carmens Verlockungen und dem Ruf der militärischen Pflichterfüllung. Hier werden Musik und Geste eins, indem er in der Blumen-Arie nach der Emphase des hohen b‘ die Stimme ins zarteste Piano zurücknimmt und den Kopf auf Carmens Schoss bettet…
Don Josés persönliche Tragik spiegelt sich in dem schockierenden Femizid. Das bedeutet keine Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle, sondern erinnert daran, dass das gesellschaftliche Phänomen bis heute erschreckende Aktualität besitzt. Vielleicht ist der kurze, aber enthusiastische Applaus am Schluss Ausdruck dieser Betroffenheit. Jedenfalls macht er den Abend besonders wertvoll.