Im Berner Kornhausforum gibt die Ausstellung «Wie Strassenzeitungen Leben verändern» dem internationalen Format ein Gesicht und schenkt dem Schweizer Magazin Surprise besondere Aufmerksamkeit. Bundesrat Beat Jans hob an der Vernissage die soziale Bedeutung des Projekts hervor.
Aus dem Strassenbild sind sie nicht mehr wegzudenken: In der Bahnhofunterführung Bern, auf dem Bärenplatz, vor dem Einkaufszentrum in Gümligen stehen Frauen und Männer, oft in roten Jacken, zuweilen auch ohne. In der Hand halten sie ein farbiges Heft, dessen Inhalte immer wieder überraschen. Viele der zum Teil originell auftretenden Verkäuferinnen und Verkäufer besitzen eine Art Promi-Status. Zwei von ihnen sind leider bereits verstorben. In Bern erinnert man sich gerne an Luca, in Zürich an Ruedi Kälin, in Basel an Bob vor dem Rathaus.
Das Cover der neusten Ausgabe. ZVG
Surprise ist ein Strassenmagazin, das vom Verein Surprise herausgegeben wird, mit Geschäftssitz in Basel und zwei Regionalstellen in Bern und Zürich. Die Reichweite des Hefts beträgt mindestens 142’000 Personen. Verkauft wird es von rund 500 Menschen, die von Armut, Obdachlosigkeit, körperlicher Beeinträchtigung oder anderen Formen der Marginalisierung betroffen sind. Sie können sich dadurch ihr eh schon kleines Einkommen aufbessern, erhalten eine Tagesstruktur und sind gleichzeitig in ein soziales Umfeld eingebunden. Ein sinnvolles soziales Projekt mit Hilfe zur Selbsthilfe.
Als unabhängiges Unternehmen mit sozialem Zweck arbeitet Surprise nicht gewinnorientiert und finanziert sich ohne staatliche Gelder. 65 Prozent der Einnahmen stammen aus dem Erlös des Strassenmagazins, den Sozialen Stadtrundgängen und den Inseraten. 35 Prozent werden durch Spenden, Sponsoren- und Stiftungsgelder eingenommen.
Wechselvolle Geschichte
Ausgabe Nr. 4, Juli 1993. Foto ZVG
Im Jahr 1993 gründeten in Basel Cathérine Merz, Hanspeter Gysin und Hans-Georg Heimann mit finanzieller Unterstützung des Basler Arbeitsamtes die Strassenzeitung Stempelkissen. Die Publikation fusionierte 1995 mit der Zeitung Kalter Kaffee, ganz heiss, herausgegeben durch das Zürcher Arbeitslosenkomitee, und wurde in der Folge unter dem Namen Surprise Arbeitslosenzeitung publiziert.
1997 wurde das Unternehmen mit der Gründung der GmbH Surprise Strassenmagazin in einen Lohnbetrieb mit professioneller Redaktion umgewandelt. Eine Ausgabe kostete damals fünf Franken. Bis 2009 hatte der Preis Bestand, dann stieg er auf sechs Franken bis im Jahr 2023, als der Preis auf acht Franken erhöht wurde. Von der Preiserhöhung von zwei Franken profitierten die Verkäuferinnen und Verkäufer mit einem zusätzlichen Franken pro verkauftem Heft.
Internationale Vielfalt. ZVG.
Weltweit gibt es knapp hundert ähnliche Magazine in 25 Sprachen und 35 Ländern, die alle einen ausgesprochen individuellen Charakter haben. Die Idee funktioniert nicht nur in Bern, Basel und Zürich, sondern auch in Dortmund, Skopje, Belgrad, Oklahoma City, Rio de Janeiro, Kaptstadt, Taiwan, Sidney, Toronto, Mexiko-Stadt und vielen weiteren Metropolen. Zusammengefasst sind die Projekte im International Network of Streetpapers (INSP), welches dieses Jahr dreissig Jahre alt wird. Hergestellt werden die Magazine von unabhängigen Journalistinnen und Journalisten.
Doch viele der Strassenzeitungen befinden sich in der Krise, denn die Verkaufszahlen sinken. Die Gründe sind vielfältig: Steigende Papier- und Druckkosten, eine Kundschaft, die sich mehr und mehr digitalen Inhalten zuwendet oder nur noch selten Bargeld mit sich führt sowie die Krise der Printmedien, lassen es erahnen: Das Konzept der Strassenzeitungen steht wieder vor grossen Herausforderungen.
Surprise-Verkäufer Martin. Foto Surprise / Marc Bachmann
Nun feiert das Kornhausforum das 30-jährige Jubiläum der sozialen Bewegung gegen Armut mit der Ausstellung Wie Strassenzeitungen Leben verändern – How Street Papers Change Lives. Die Schau ist eine aufschlussreiche Auslegeordnung der internationalen Projekte und schenkt dem Schweizer Magazin Surprise besondere Aufmerksamkeit. Folgende Fragen werden behandelt: Wer waren die Menschen, die Surprise zu Beginn verkauft haben? Wer sind sie heute? Wie hat sich das Projekt durch die Jahre verändert – und was haben Stadtrundgänge, Kaffee, Chor oder Fussball mit dem Strassenmagazin zu tun?
An der Vernissage erklärte Bundesrat Beat Jans, der selber neun Jahre im Surprise-Vorstand sass, fünf davon als Präsident, weshalb das Magazin mehr als ein Druckprodukt ist: «Es geht um Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, und um wichtige Institutionen, die von Surprise organisiert werden.» In jeder Nummer gebe die Publikation Einblick in eine Welt, die von der Gesellschaft gerne verdrängt würden. Zur Überraschung des Publikums sang Jans im Kornhausforum eine Strophe des Bob Marley-Songs «Redemption» , den der jamaikanische Sänger 1979 geschrieben hatte, als bei ihm bereits Krebs diagnostiziert worden war, an dem er 1981 starb. Mit der für ein Regierungsmitglied ungewöhnlichen Einlage erinnerte der jüngste Bundesrat an den Basler Surprise-Verkäufer Bob, der das Lied jahrelang vor dem Rathaus, unter seinem Bürofenster, gesungen hatte.
Surprise-Verkäufer Moussie im Zentrum Moos. Foto PS
Nach Aussage von Rebecka Domig, Kuratorin der Berner Ausstellung, sind verschiedene Perspektiven und Schlaglichter vertreten. «Jeder und jede Besucherin bringt eine eigene ergänzende Sicht auf das Thema mit. Ich hoffe, dass in der Summe eine vielstimmige Erzählung geschaffen wird. Dabei soll das Staunen den Weg freimachen für ein tieferes Verständnis unserer Welt und für die Rolle, die Strassenzeitungen darin einnehmen», schreibt die Kunsthistorikerin in der aktuellen Surprise-Ausgabe. In der Tat ermögllich Surprise andere Blickwinkel als die Mainstream-Medien, neue Perspektiven, auf immer gesellschaftlich revante Themen.
Ein Mann tut dies jede Woche persönlich: Moussie, mein persönlicher Surprise-Verkäufer, strahlt mich jeweils schon von weitem an, wenn ich das Einkaufszentrum Moos in Gümligen betrete. Seine Fröhlichkeit, seine positive Lebenseinstellung, wirken ansteckend und kompensieren das schlechte Wetter sowie die wenig erfreuliche Weltlage, mit der wir uns täglich konfrontiert sehen. Moussies Lächeln ist auch in hektischen Zeiten vorbildlich.
Titelbild: Surprise-Verkäuferin Merima in Bern. Foto Surprise / Marc Bachmann
AUSSTELLUNG NOCH BIS AM 3. AUGUST 2024
Buchhinweis
Persönliche Erfahrungen von Surprise-Verkäufer Urs Habegger.
Ein Zürcher Strassenverkäufer hat ein Buch geschrieben: Seit fast zwanzig Jahren arbeitet Urs Habegger als Verkäufer des Strassenmagazins Surprise in der Bahnhofunterführung Rapperswil. Der Rentner, der seinen ursprünglichen Job als Grafiker aufgrund einer missratenen Augenoperation verlor, schätzt an seiner jetzigen Anstellung die Möglichkeit, tagtäglich mit Menschen verschiedenster Art in Kontakt zu treten. Mit Menschen, für die er oft mehr ist als nur ein Zeitschriftenverkäufer: «Ich bin auch Zuhörer. Gesprächspartner. Motivator. Psychologe. Informationsbüro. Gepäckaufbewahrung.» Habeggers Bericht über seine vielen schönen und weniger schönen Begegnungen sind faszinierend; sein beleuchtender und durchleuchtender Blick auf die Menschen regt zum Nachdenken an.
«Am Rande mittendrin – Erlebnisse eines Surprise-Verkäufers», Urs Habegger, Elfundzehn Verlag, 2024, ISBN 978-3-905769-75-3
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Surprise Talk – Podcast zur Ausstellung