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Ein Ukrainer blickt in die Zukunft

Seit fast zweieinhalb Jahren lässt Putin seinen Nachbarstaat, die Ukraine, zerbomben. Wie die Menschen sich dennoch Ziele für ihre Zukunft setzen, lesen wir bei Alex Lissitsa: «Meine wilde Nation. Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit.» Eine Buchempfehlung.

Was den Autor, Geschäftsführer einer immens grossen ukrainischen Agrarholding, bewog, über seine «wilde Nation», die Ukraine, zu schreiben, erklärt er ungefähr in der Mitte des Buches. Er nimmt die Aussage eines Journalisten auf, der die Ukrainer – und selbstredend auch die Ukrainerinnen – als «wilde» Europäer bezeichnet hatte. Alex Lissitsa stimmt dem zu und erklärt: «»Bei dem Wort wild denke ich zuerst an wilde Tiere, die noch ganz in der Natur leben» und ihren ganz elementaren Bedürfnissen folgen. Sehnsucht nach Sicherheit, die in den letzten Jahrhunderten häufig bedroht war, das Bedürfnis zu überleben, eine Familie zu haben, die Halt gibt, und bei Gefahr sein Nest «verbissen zu verteidigen».

Alex Lissitsa (Foto privat)

Ukrainischer Individualismus

Damit drücke sich ein ganz spezieller Individualismus der Ukrainer aus, einer, der zugleich sage «Lasst mich in Ruhe», erklärt Lissitsa. Daraus schliesst der Autor: «Wilde Gewohnheiten ändern sich nur sehr langsam», und fügt seine eigene Zielsetzung an: «Wir müssen lernen, nicht nur auf kurzfristige Gefahren schnell zu reagieren, sondern auch vorauszudenken. Wir müssen für das Land eine langfristige Strategie entwickeln. Hier kommt Europa ins Spiel. Die Bindung an Europa verlangt von uns, unsere Wildheit zu zähmen.»

Verbündete suchen

Nun erkennen wir, was Alex Lissitsa bewog, dieses Buch auf Deutsch zu schreiben: Er sucht Verständnis und Unterstützung in Deutschland, bei Politikern, bei Wirtschaftskapitänen, auch bei Expertinnen und Experten, die bei der Entwicklung demokratischer Strukturen helfen können, kurz bei allen, die sein Heimatland darin unterstützen, EU-tauglich zu werden. Der Autor besitzt dazu die besten Voraussetzungen. Er stammt aus einer bescheidenen Bauernfamilie im Norden der Ukraine (Oblast Tschernihiw), hat Agronomie studiert und konnte anschliessend in Berlin an der Humboldt-Universität promovieren, natürlich auf Deutsch.

Erfolg durch Intelligenz oder durch Korruption

Bei der Lektüre lerne ich einen aufmerksamen, wachen und offensichtlich hochintelligenten Menschen kennen, erkennbar daran, dass er durch seine Leistungen in der Universität vorangekommen ist, nicht durch Zahlung von Schmiergeld, wie viele seiner Kommilitonen. Es gelingt Lissitsa wohl allerorten, Freunde und Freundinnen zu finden, die ihm später helfen können – und denen zu helfen er ebenfalls bereit ist. Er kann sich schnell als Geschäftsführer im Agrarbusiness bewähren, scheut nicht davor zurück, die alten Strukturen aus Sowjetzeiten aufzubrechen und mit jungen motivierten Mitarbeitenden neue Betriebe aufzubauen.

Ein Ukrainer schreibt auf Deutsch

Kurz, er ist ein erfolgreicher Manager, perfekt vernetzt und auch in Regierungskreisen geschätzt. Lissitsa schreibt darüber mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, an seinem Selbstbewusstsein ist nicht zu zweifeln. Sein Buch ist eine kurzweilige Lesefreude, der Autor schreibt lebendig und witzig, fast in Tagebuchform, in kurzen Kapiteln, oft notiert er kleine Gespräche. Einige Kapitel reflektieren die Befindlichkeit der Menschen in Gegenwart und Vergangenheit. Der Autor schreibt offen über die sowjetischen Altlasten, über die immer noch vorhandene Korruption und über die notwendigen Reformen, um aus der Ukraine einen modernen Staat zu machen.

Der Präsident – früher ein TV-Komiker

Auch über Wolodymyr Selenskyj äussert er sich, zumal er als hoher Vertreter der Agrarwirtschaft mit dem Präsidenten zu tun hat. Wie ich selbst von Freunden einer Ukrainerin in meiner Familie wusste, war man 2019 skeptisch gegenüber dem neu gewählten Präsidenten, auch Lissitsa. Wie dieser sich nach Kriegsbeginn verhielt, nicht weglief oder sich versteckte, notiert der Autor mit Respekt. Auch später stellt er mit Befriedigung fest, dass sich Selenskyj persönlich für die Soldaten an der Front einsetzt und einen Plan hat, sie auch moralisch zu unterstützen.

Der Krieg ist immer da

Der Krieg – Putins Angriffskrieg – steht selbstverständlich hinter jedem Kapitel. Das Buch beginnt am Vorabend des Krieges, denn die hohen Wirtschaftsführer werden wie die Politikerinnen und Politiker vorgewarnt. Wir begleiten den Autor zunächst auf seiner Flucht aus Kyjiw, erfahren von der Verwirrung, der Ratlosigkeit und der Angst der Menschen damals. Der Autor bewahrt seinen kühlen Kopf und findet Wege, weiterhin für seine Geschäfte, aber auch für seine Mitarbeitenden, seine alte Mutter bei Tschernihiw und seine Freunde zu tun, was möglich ist. Sogar das Geschick seines Katers Kiki können wir miterleben. Er macht dem Autor Sorgen, ist aber auch Ursache für heitere Szenen.

Die Ukraine am Arbeitsplatz oder an der Front unterstützen

Wie umfassend sich Lissitsa für seine Belegschaft engagiert, zeigt eine Szene. Der Autor hatte ein Seminar zur Weiterbildung und Motivation organisiert – auch dafür muss trotz Krieg Raum sein. Zum Abschluss hatte er einen Psychotherapeuten aus Odesa eingeladen, denn Lissitsa spürte die Traumata seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Daraus entstand eine Diskussion über den Hass, der durch diesen Krieg entstanden ist, und darüber, wie jeder einzelne handeln sollte: Soldat werden oder im Produktionsprozess bleiben. Beide Möglichkeiten haben ihren Sinn.

Von der Grösse der Landwirtschaftsfläche in der Ukraine machen wir uns keine Vorstellung. Lissitsa erzählt, wie der Schweizer Landwirtschaftsattaché ihn einmal gefragt hatte, wie gross die Anbaufläche seines Unternehmens sei: 130’000 Hektar. Der Attaché schien nicht verstanden zu haben und fragte zurück «13’000 ha?» Schliesslich begriff er, dass es ein Drittel der landwirtschaftlichen Gesamtfläche der Schweiz umfasst.

Alex Lissitsa: Meine wilde Nation. Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit.
C.H.Beck Verlag 2024. 285 Seiten mit einer Landkarte.
ISBN 978-3-406-81409-9.
Auch als E-Book erhältlich

Titelbild:  Sonnenblume und blauer Himmel widerspiegeln sich in den Farben der ukrainischen Nationalflagge (Foto: Andreas Hermsdorf / pixelio.de)

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1 Kommentar

  1. Wir Schweizerinnen und Schweizer müssen uns stets mit der Freiheit und mit der Demokratie auch für andere Länder befassen, nicht nur für unsere. Wer derart in seinen Rechten und in der Staatssicherheit angegriffen und verletzt wurde wie die Ukraine muss unsere Unterstützung fortwährend erfahren können.

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