Mit einer grossen «Kiste» sind «Bühnen Bern» in die neue Opern-Saison gestartet: In «Pariser Leben» von Jacques Offenbach gibt es 500 Kostüme, ein 14-köpfiges Gesangsensemble, einen riesigen Chor sowie ein fantastisches Bühnenbild zu bewundern. Musikalisch begleitet werden die Sängerinnen und Sänger vom Berner Symphonieorchester.
Paris gilt als «Stadt der Liebe». Man fährt an die Seine, um (nach dem «Louvre») das «Moulin Rouge» oder ein anderes Etablissement mit halbnackten Damen zu besuchen, um sich zu vergnügen, Abenteuer zu erleben oder sich sogar der «Sünde» hinzugeben. So wenigstens lautet ein in gewissen Kreisen verbreitetes Klischee.
«Pariser Leben» heisst auch eine französische «Opera buffa» (Operette) in fünf Akten des Komponisten Jacques Offenbach und der Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Ihre Uraufführung erlebte die Operette am 31. Oktober 1866 im Théâtre du Palais-Royal in Paris. Auf den Tag genau ein Vierteljahr später, am 31. Januar 1867, ging im Wiener Carltheater die deutschsprachige Erstaufführung über die Bühne.
In der Gegenwart verortet
In der Berner Inszenierung (Regie: Amélie Niermeyer) wird die Geschichte weiterentwickelt und in der Gegenwart verortet: Baron Gondremarck trifft zusammen seiner reizenden Gattin per TGV von München kommend in Paris ein: Er auf der Suche nach einem prickelnden Abenteuer mit dem Mädchen Métella, das ihm ein Freund empfohlen hat. Sie mit dem Ziel, sich in den Museen der edlen Kunst hinzugeben.
Kurz nach der Ankunft begibt sich der Baron für viel Geld unter die Fittiche zweier Lebemänner, Gardefeu und Bobinet, die ihm den Himmel auf Erden versprechen. Als sich herausstellt, dass für den Abend kein üppiges Bankett mit hochkarätigen Gästen organisiert wurde, kommen die Lebemänner auf die Idee, das Personal des Hotels einzuladen.
Zur Feier erscheinen deshalb verkleidete Zimmermädchen, Diener, Servicepersonal sowie Handwerker, die alle die Chance nutzen, für einen Abend aufzusteigen und so zu tun, als seien sie die adeligen Gäste. Die Angestellten mimen einen Admiral, eine reiche Witwe, Personen aus dem Luxus-Adel, die sie gar nicht sind.
Mangels adeliger Gäste wird das Hotelpersonal zur Party eingeladen.
Weil die Mischung aus verruchtem sowie obszönem Flair mitsamt ungebändigter Feierlaune in allen gesellschaftlichen Kreisen zu finden ist, entwirren sich die Verstellungs-, Verkleidungs- und Liebesabenteuer nur, indem man sich darauf einigt, alles zu vergessen und ein Loblied auf das Pariser Leben zu singen.
Party wird zur Orgie
Am zweiten Abend wiederholt sich das Ganze: Ein steinreicher, als goldener Cowboy verkleideter Brasilianer hat zum Fest geladen und protzt mit seinem Reichtum. Der Champagner fliesst in Strömen, und die Party artet zu einer wahren Orgie aus. Der Baron schwelgt – ohne Gattin – im Glück und geniesst das typische «Pariser Flair».
Rollentausch total: Die Party wird zur Orgie.
Seine Ehefrau wird inzwischen von einem der beiden Lebemänner umgarnt und erlebt den Pariser Charme auf ihre Weise. Als sie erfährt, dass sich ihr Ehemann mit fremden Frauen vergnügt, wechselt auch sie das Kostüm und trägt damit zur allgemeinen Verwirrung bei. Am Schluss stellt sie den Baron zur Rede. Nach einer Auseinandersetzung versöhnen sich alle und geniessen das ausgelassene Pariser Leben. Bis der Zug nach München fährt.
Die Berner Inszenierung spart nicht mit Übertreibungen und Verzerrungen. Das Spiel ist überzeichnet, laut und hemmungslos. Zuweilen geht der Klamauk an die Grenzen des Humors, aber immer gibt es wieder ruhige, besinnliche Szenen, in denen aktuelle gesellschaftliche Themen angesprochen werden. Sich in der Öffentlichkeit küssende Frauen (gleichgeschlechtliche Liebe) waren zu Offenbachs Zeiten ein No-go. Streikende Arbeiter und im Bahnhof herumhetzende Geschäftsleute in grauen Businessanzügen signalisieren Gegenwartsbezug. Im Zeichen der Frauenbewegung schlägt einer der Lebemänner vor, sich zu «re-mann-zipieren».
Emsiges Treiben am Pariser Bahnhof, wo jeden Moment der Baron und die Baronin eintreffen.
Schlager und Jazz als Ergänzung
Eine tolle Regieidee ist auch der Wechsel zwischen Offenbachs Ohrwürmern mit rockigen, bluesigen und swingenden Hits der Gegenwart. Aus Cancan wird Breakdance, und plötzlich erklingt der Song «Scharlachrot» von «Patent Ochsner». Das temporeiche, farbenfrohe, überdrehte Spiel wird in keinem Moment langweilig, so dass man als Zuschauer gar nicht merkt, wie rasch die dreistündige Vorstellung vorbeizieht.
Lustvoll-sprühend ist auch die Spielfreude der Sängerinnen, Sänger, Musikerinnen und Musiker. Im Mittelpunkt stehen der Berner Bass Simon Burkhalter als Diener Urbain, Evgenia Asanova als rätselhafte Métella, Katharina Abt und Dominik Köninger als Ehepaar Gondremarck. Adrian Weinek brilliert als Bobinet und Jonathan McGovern als Gardefeu. Vor allem optisch präsent ist der als Brasilianer verkleidete Ian Matthew Castro. Gesanglich überzeugt auch Cinzia Zanovello als leuchtende Gabrielle.
Im Mittelpunkt: die zauberhafte Gabrielle und der goldene Brasilianer.
Toll sind die Auftritte von Cinzia Zanovello (Gabrielle), Lucija Ercegovac (Pauline), Shuying Li (Clara), Nora Schulte (Léonie), Caspar Krieger (Prosper), Fabian Meinen (Gontrand) und Jan Schreiber (Alphonse). Das Bühnenbild hat Christian Schmidt gebaut, die Kostüme stammen von Kirsten Dephoff. Sie alle tragen gemeinsam mit dem Berner Symphonieorchester zu einer fantastischen Gesamtleistung bei. Ein unvergesslicher Operettenabend.
Der Baron (unten rechts), zugedeckt von der Festgesellschaft.
Es mag sein, dass einigen Besucherinnen und Besuchern die Berner Aufführung zu schrill, zu überdreht daherkommt. Dem Grossteil des Publikums aber gefällts: Mehrfacher Szenenapplaus und eine minutenlange Ovation zum Schluss sind die Antwort auf das atemlose «Pariser Leben» im Berner Stadttheater.
Titelbild: Aus voller Kehle: v.l.n.r. Urbain (Simon Burkhalter), Baron Gondremarck (Dominik Köninger), Léonie (Nora Schulte), Prosper (Caspar Krieger) und Gardefeu (Jonathan McGovern). Alle Fotos Ingo Hoehn.
Aufführungen bis 26. Januar 2025