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Von der «Banalität des Bösen»

Die Philosophin Hannah Arendt hat im Jahr 1961 den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem verfolgt. Persönlich gesprochen hat die Jüdin mit dem geistigen Vater der «Endlösung der Judenfrage» nie. «Bühnen Bern» zeigen einen fiktiven Dialog, der auf historischen Protokollen beruht.

Das Stück heisst «Eichmann – wo die Nacht beginnt» und wird in den Vidmarhallen (Liebefeld) als deutschsprachige Erstaufführung gezeigt. Geschrieben hat es der italienische Dramatiker Stefano Massini. Die Übersetzung stammt von Sabine Heymann.

Inszeniert hat den aufrüttelnden Stoff Schauspieldirektor Roger Vontobel. Die beiden Figuren werden von zwei Ensemble-Mitgliedern des Theaters verkörpert: Lucia Kotikova spielt Hannah Arendt. In die Rolle des verurteilten SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann schlüpft Claudius Körber. Am Mittwochabend war Première.

Adolf Eichmann im Gerichtssaal: Während des Prozesses in Jerusalem (Mai 1961). Foto: Israeli Public Broadcasting Corporation.

Hannah Arendt (1906-1975) und Adolf Eichmann (1906-1961) sassen zwar im selben Gerichtssaal, aber gesprochen haben sie nie miteinander. Arendt hatte 1961 für das US-Magazin «New Yorker» über den Jahrhundertprozess geschrieben.

Der 1960 aus Argentinien nach Israel entführte und in Jerusalem vor das dortige Bezirksgericht gestellte Eichmann wurde 1961 nach dem Todesurteil in Israel hingerichtet. Das Gericht war überzeugt, dass Eichmann keinen Gewissenskonflikt empfunden, sondern sich die ihm erteilten Befehle zu eigen gemacht und diese stets aus innerer Überzeugung ausgeführt hatte. Zudem hatte er sich eigene Befehlsgewalt angemasst. Deshalb konnte er sich nicht strafmildernd darauf berufen, auf höheren Befehl gehandelt zu haben

Der dunklen Realität nachempfunden

Massinis fiktiver Dialog beruht auf Zeitungsartikeln, Einvernahmeprotokollen, Gerichtsaussagen und weiteren Dokumenten. Obwohl die beiden Hauptpersonen den Text nicht autorisieren konnten, dürften die Zitate, Haltungen und Charakterisierungen auf der Bühne weitgehend den historischen Tatsachen entsprechen oder der dunklen Realität nachempfunden sein. Das Spiel sei eine «künstlerische Bearbeitung der Geschehnisse», heisst es im Prolog.

Adolf Eichmann (gespielt von Claudius Körber) auf der Bühne.

Das Stück untersucht, wie der selbsternannte «Ingenieur» zur Ausarbeitung eines ebenso minutiösen wie unmenschlichen Planes, der „Endlösung der Judenfrage“, gelangte. Es ist ein Dialog über Schuld, Verharmlosung und die «Banalität des Bösen». Hannah Arend hatte den Ausdruck nach dem Prozess in ihrer berühmten Abhandlung «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen» geprägt und war dafür vor allem von jüdischer Seite kritisiert worden.

Der Grund: Sie sah in Adolf Eichmann keinen fanatischen Antisemiten oder perversen Sadisten, sondern einen bürokratischen Funktionär, der aus Gedankenlosigkeit und/oder Pflichtgefühl gehandelt hatte. Eichmann war nicht der Erfinder des Holocaust, aber er führte Befehle aus, ohne die moralischen Konsequenzen zu reflektieren, was ihn für Arendt zu einem «Symbol der Unmenschlichkeit in der Normalität» machte.

Hannah Arendt auf dem 1. Kulturkritikerkongress 1958, Foto: Barbara Niggl Radloff.

Kritiker warfen der deutsch-amerikanischen Philosophin und Autorin vor, den Antisemitismus Eichmanns zu unterschätzen und seine Rolle im Holocaust zu verharmlosen. Für Arendts Bekannten Gershom Scholem war der Nationalsozialist nicht bloss ein bürokratischer Vollstrecker, sondern ein ideologisch motivierter Antisemit. Die Philosophin verteidigte ihre Interpretation von «Banalität» in mehreren Interviews, aus denen im Theaterstück zitiert wird.

In den Dialogen versucht Arendt herauszufinden, wo und wann bei Eichmann das Böse begann. Nach einer Analogie zu russischen Bauern, die von Stalin deportiert und getötet worden waren, wirft sie Eichmann sprachliche Verharmlosung vor. Statt «Massaker» sei der Begriff «Endlösung», statt «Deportation» das Wort «Evakuation» verwendet worden, sagt die Philosophin. «Sie sprechen vom ‹Bösen›: das Böse existiert nicht, es existiert nur die Angst davor, ihm zu begegnen», hält Eichmann ihr entgegen.

Eine gefühllose Maschine

Hanna Arendt (gespielt von Lucia Kotikova) treibt Eichmann in die Enge.

Die Philosophin ist dem Massenmörder von Beginn bis zum Schluss der Vorstellung intellektuell überlegen. Sie überführt ihn mehrfach der Lüge. Als er behauptet, Jiddisch zu verstehen, bildet sie jiddische Sätze, worauf der Angeklagte nichts versteht. Als er sich brüstet, eine Ingenieursausbildung absolviert zu haben, konfrontiert sie ihn mit der Tatsache, dass er gar kein Ingenieursdiplom besitzt.

Claudius Körber interpretiert Eichmann als gefühllose Maschine. Die Gestik pendelt hin und her zwischen Aufplustern, wenn er sein Handeln verteidigt, und peinlicher Verlegenheit, wenn ihn die Philosophin in die Enge treibt oder der Lüge überführt. Nationalsozialistischen Ordnungssinn verdeutlicht Körber mit einem verlegenen Zurechtrücken der Krawatte. Ehre umschreibt er mit dem Begriff Treue (Loyalität), eine Interpretation, die auch im Trumpschen Amerika wieder aufgetaucht ist.

Vom Spiel mit der Zigarette

Hannah Arendt wirft Eichmann vor, die Konsequenzen seines Tuns nicht bedacht zu haben.

Lucia Kotikova spielt minutenlang mit einer Zigarette zwischen den Fingern und formuliert ihre Fragen messerscharf. Von Hannah Arendt gibt es Dutzende von Fotos mit Zigarette. Glasklar ist ihr Vorwurf an den Massenmörder: «Ein Mensch ist imstande zu entscheiden, ob er schweigt oder das Böse bekämpft», sagt sie auf der Bühne und folgert: Eichmann habe Befehle ausgeführt, zu den Konsequenzen aber geschwiegen. Deshalb sei er kein Mensch.

Darauf verteidigt sich Eichmann: «Es gibt Dinge, in die gerät man hinein. Ich bin eine Respektsperson, ungewollt zu Macht gekommen. Ich war kein Henker, ich habe organisiert, aber keine Menschen getötet. Wenn ich es nicht getan hätte, hätten es andere getan.» Die Beschönigung treiben  einem selbst 63 Jahre nach dem Prozess  das Blut in den Kopf. Von Arendt argumentativ in die Enge getrieben, zieht Eichmann (alias Claudius Körber) eine Nazi-Offiziersunform an und stellt sich mitten in den Raum.

Gefangen im Licht: Eichmann zwischen Lügen und Verharmlosung.

Damit verwandelt er sich vom biederen Büromenschen in einen kaltblütigen SS-Offizier. Dann lässt Hannah Arendt (alias Lucia Kotikova) am Stahlseil eine Kranzbeleuchtung herunter und nimmt den Beschuldigten symbolisch in Haft. Dieser ringt verzweifelt nach Worten und steigert sich in die Behauptung, Würde bestehe für ihn darin, Befehle zu respektieren. Dem Zuschauer gerinnt das Blut in den Adern.

Aktualitätsbezug unübersehbar

Dem eindrücklichen Dialog-Stück fehlt es nicht an dramatischer Aktualität. Rund um den Globus sind heute Dutzende von Büromenschen, Befehlsempfängern und Lügnern am Werk, Menschenrechte mit Füssen zu treten, die Verfassung(en) zu  missachten und stolz auf die Loyalität zum Chefs, einem Autokraten zu sein.

Blinde Gefolgschaft und blinden Gehorsams gibts auch heute noch. Weltweit. «Man tut mit seinen Verbrechen ja nur seine Pflicht.»

In vielen Staaten dieser Erde hat, wie anlässlich von Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933, die Nacht gerade begonnen.

Titelbild: Hannah Arendt  schilderte Eichmann als einen «stumpfsinningen Mann, der nicht aus böser Absicht handelte, sondern als jemand, der ohne Reflexion und moralische Verantwortung agierte». Theaterfotos: Yoshiko Kusano

Die Vorstellungen dieser Spielzeit sind alle ausverkauft. Wiederaufnahme ab 1. Oktober 2025 in den Vidmarhallen, Bern-Liebefeld.

Hinweis: An jedem Vorstellungstag finden Sie ab 19:30 Uhr auf dem Tresorplatz einen Einblick in das Leben und Werk von Hannah Arendt, kuratiert von Ilinca Purică. An ausgewählten Terminen finden im Anschluss an die Vorstellung Nachgespräche mit Expert*innen statt. Diese werden laufend geplant und ergänzt. Details auf der Webseite:

Bühnen Bern

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