Den schmerzensreichen langsamen Tod seiner Frau Ursula hat der Soziologe Peter Gross aufgeschrieben. Ein Buch über Leben und Sterben
Wenige Wochen vor dem Tod sagt die krebskranke Ursula ihrem Mann ins Ohr „Ich muss sterben.“ Sie wissen beide, es gibt keine Wende mehr, keine Operation, keine Therapie. Peter Gross wird Krankenpfleger, Sterbegegleiter und erfährt, wie die Erwartung des Todes eine neue, intensivere, andere Liebe entstehen lässt, „die unvergleichlich intensiver und stärker war als jede Liebe vorher. Und der Tod selber hinterlässt das Geschenk der Sehnsucht, das es ohne den Entzug, ohne die Abkehr, ohne den Tod nicht gäbe.“
Stilleben von Heda Willem Claesz. 1634. Memento mori mit Blumen oder Speisen waren damals bekannte Motive in der Malerei
Ursula schaut manchmal von der Couch aus zu, wie Peter im Computer die Sätze formt, mit denen er Trauer und Qual zu lindern sucht, Sätze, die er ihr vorliest, Sätze, die er kurz nach ihrem Tod unter dem Titel Ich muss sterben. Im Leid die Liebe neu erfahren als Buch herausgibt. Das Buch ist ein langer Brief an seine Ursula, die qualvoll und langsam stirbt. Es sind Beobachtungen, wie seine attraktive Frau unters Diktat einer zerstörerischen Krankheit gerät, die ihren Körper schwächt und zeichnet, wie ihre Arme zu Ärmchen werden, die sie hilfesuchend ausstreckt, wie sie ihren Zustand selber täglich notiert – die Nahrung, das Erbrechen – und alle Ideen, Wünsche, Erinnerungen keinen Raum mehr haben.
Ein Memento Mori von heute: «Lange Zeit» heisst die Videoarbeit von Evelina Cajacob von 2013. Foto: Eva Caflisch
Nichts bleibt ungesagt in diesem langen Brief an die tote Ursula, weder die Sexualität der früheren, noch die Körperpflege der späten Zeit. Es gibt Passagen in dem Text, die einem fast zu privat sind, aber die Reflexion darauf erhöht das Banale ins gültige Nachdenken über Leben und Sterben, über den unabwendbaren Tod jeden Individuums. Gross wäre nicht ein Wissenschaftler und Intellektueller, der Trost nicht allein im für ihn prägenden katholischen Glauben findet, sondern vielmehr bei Autoren und Autorinnen aus der Weltliteratur. Er denkt nach über Weltreligionen und ihr Verständnis von Leben und Vergehen, er philosophiert zu dem Filmtitel The World is not Enough (James Bond 1999), über das Menschsein: „Seit es den Homo erectus gibt, wird die Wirklichkeit der Möglichkeit zugetrieben. Alle Innovationen sind ihr geschuldet, von der metallenen Speerspitze der Eisenzeit bis zur augmented reality, wie sie Google mit seiner Data-Brielle anpreist… Wir hoffen und hoffen, dass das Mögliche wrklich und das Abwesende anwesend wird. Die Formel Orbis non sufficit ist die Weltformel, mit der alles seinen Anfang nimmt,“ das Jenseits, die Beziehung des Menschezu Gott mit eingeschlossen.
Der Teich im Zürcher Friedhof Enzenbühl. Foto: Adrian Michael
Immer wieder tauchen in dem Gedankenfluss Bilder auf. Die einen aus der kleinen Welt der sterbenden Ursula und ihres Manns wie die roten Schuhe, die im Flur stehen und aufs Ausgehen zu warten scheinen, oder der Telefonbeantworter, der noch immer mit Ursulas Stimme spricht. Die anderen aus der Welt der Erinnerung, der Lektüre und Kunstbetrachtung, wie der heilige Laurentius mit seinem Narbenkleid in der Kirche seiner Kindheit, der rätselhaft-brutale Beginn des Romans Mädchen (The Girl who loved Tom Gordon): „Die Welt hat Zähne. Und mit denen beisst sie zu wann immer sie will,“ die roten Pantöffelchen in Carpaccios Gemälde Der Traum der heiligen Ursula. Und von Literatur und Kunst führt der Gedankenfluss wiederum zu Ursula und Peter, deren kleine Welt kleiner und kleiner wird, schliesslich zu Peter allein, dem die Sehnsucht bleibt.
Buchcover «Ich muss sterben»
Es ist ein aussergewöhnlicher Text des Soziologen, der sich in seinem vorletzten Buch mit dem Altern der Gesellschaft befasste und dabei herausarbeitete, dass es nicht nur als Last begriffen werden sollte. Seine Ursula ist vergleichsweise jung gestorben. So schreibt Peter Gross vom Lebensende und vom Überleben eines Verlassenen. Vielleicht ein tröstendes Buch für Menschen, die ein ähnliches Schicksal leben müssen, vielleicht ein aufklärendes für alle anderen, die den Tod lieber verdrängen als sich ihm stellen wollen.
Teaserbild aus: www.petergross.ch
Peter Gross: Ich muss sterben. Im Leid die Liebe neu erfahren. Herder 2015. Fr. 24.50
Peter Gross liest aus dem Buch am 20. März in Bischofszell. Details finden Sie hier