Der Appell Kants anno 1784 für Selbstbestimmung und Vernunft ist gleichbedeutend mit der Aufforderung, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Schnee von gestern?
Das Zeitalter der Aufklärung war die Antwort auf die Entmündigung des Fussvolkes durch Staat und Kirche. Immanuel Kant formulierte es so: „ Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Sie ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Diese Aufforderung blieb nicht ungehört. Die verflossenen 232 Jahre haben die Vorherrschaft des Adels und der Unterdrückung immerhin systematisch abgebaut und durch Volksherrschaft und Demokratie ersetzt – wenigstens in unseren Breitengraden.
Immer häufiger ist in letzter Zeit aber ein Prozess der Selbst-Entmündigung zu beobachten, des freiwilligen Verzichts auf Verantwortung, die der Einfachheit halber delegiert wird, an wen auch immer. Ja ja, die Moralapostel! Ich traue ihnen auch nicht über den Weg. Aber ohne eine Portion Gegensteuer landen wir da, wo der Ruf nach Mitbestimmung zur Makulatur wird oder die Rattenfänger nur darauf warten, das Heft in die eigenen Hände zu nehmen.
Ein Minenfeld sind die Schulen. Die Kindergärtnerinnen beklagen immer häufiger, dass sie es mit Sprösslingen zu tun haben, die von zuhause gar nichts mehr mitbekommen, was die Sozialisierung erleichtern würde. Sie sind immer verhaltensauffälliger, gebärden sich renitent, egozentrisch und lassen alles vermissen, was früher eine angemessene Kinderstube ausmachte. Von die eigenen Schule binden und die Nase schnäuzen können, ist keine Rede mehr, zur Zeit und mit Frühstück in die Schule kommen, das war gestern, sich in eine Gruppe einfügen, keine Ahnung, was damit gemeint ist.
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans natürlich nimmer mehr. Volks-, Mittel- und Berufsschulen haben es immer mehr mit Jugendlichen zu tun, die am liebsten überhaupt keine Verantwortung mehr übernehmen wollen. Wofür auch? Sie machen lieber blau, wenn sie einem Prüfungsstoff aus dem Weg gehen wollen. Die unbelegten und geschummelten Absenzen haben ein Ausmass angenommen, dass jede Bitte, Verantwortung für einen guten Schulabschluss und berufliche Perspektiven zu übernehmen, mit einem müden Lächeln quittiert wird. Die Lehrpersonen sind immer mehr mit psychischen Betreuungsaufgaben und einer Null-Bock-Arbeitshaltung konfrontiert. Wer die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit liest, weiss, was für eine Zeitbombe tickt. Die Radikalisierung und Gewaltbereitschaft junger Horden gegenüber der Polizei und Beamten, von links wie von rechts, ist alarmierend.
Nun lesen wir auch, dass die junge Generation das «Littering», die achtlos weggeworfenen Wohlstandsverpackugen, überhaupt nicht stört. Dafür gibt es ja Putzequipen in Schulhäusern und Freizeitanlagen. Ich kann doch nicht cool sein und den eigenen Müll auflesen, das geht doch nicht zusammen.
Leider ist die Politik kein Gradmesser, was uns versöhnlicher stimmt in Sachen Eigenverantwortung, auch wenn die jüngste Abstimmung eine erfreuliche Trendwende markieren könnte. Parteiungebundene junge Leute, Studenten, Juristen, Schriftsteller, Wirtschaftsführer haben sich vehement und mit z.T. originellen Ideen und Parolen gegen die bedrohliche, radikale Durchsetzungsinitiative eingesetzt und sind für eine solidarische Schweiz auf die Barrikaden gestiegen. Das ist erfreulich. Aber die Tendenz, einer Partei alles nachzubeten und ihr wie eine Hammelherde zu folgen, ist nach wie vor beängstigend gross. Nein, Verantwortung lässt sich nie und nimmer delegieren. Die Entmündigten wären die Ersten, welche ihre Rechte wieder einforderten.