Vor den Wahlen in Frankreich und Deutschland, später in Italien
Nach dem Brexit, nach der Wahl Trumps in den USA ging ein Schreckgespenst durch Europa, vor allem von den Medien hochgekocht: ein um sich greifender Rechtspopulismus. Parteien am rechten Rand, Rechtsextreme, die in ihrer vehementen Opposition zu den bestehenden demokratischen Institutionen, gar mit gewaltigen Aktivitäten, die äusserste, oft gewaltsame Linke abgelöst haben, schienen langsam, aber stetig zur Macht zu greifen. In Oesterreich, in Holland, nächsten Sonntag in Frankreich, später im Herbst, in Deutschland, nächstes Jahr wohl auch in Italien.
Und nun das: In Oesterreich zog mit Alexander van Bellen ein Grüner als Bundespräsident in die Hofburg zu Wien ein. In der oesterreichischen Regierung zieht mit Bundeskanzler Christian Kern ein smarter, rechter Sozialdemokrat die politischen Strippen und steigt in den Umfragen immer mehr zum Leader auf. In Holland gelang es Mark Rutte, dem bisherigen Ministerpräsidenten, den Ansturm des rechtsnationalen Geert Wilders zu stoppen. In Frankreich, am nächsten Sonntag, wird wahrscheinlich nicht Marine Le Pen, eine „nationalistische Sozialistin“, wie sie Gerhard Schwarz in der NZZ bezeichnet, zum Staatsoberhaupt gekürt werden, sondern Emanuelle Macron, ein agiler 39 jähriger Sozialliberaler.
Und in Deutschland werden ab den Sommerferien die Christdemokratin Angela Merkel und der Sozialdemokrat Martin Schulz um die Gunst der Wählerinnen und Wähler ringen. Beide sind nicht astreine Parteigänger. Merkel neigt zur Sozialdemokratie, was ihr vor allem von ihren Widersachern in der Union, vom Bayer Horst Seehofer, übel genommen wird. Und Martin Schulz ist zuerst Europäer und passt so gut ins neue europäische sozialliberale Lager.
Und nicht genug: In Italien startet der einstige jugendliche Ministerpräsident Matteo Renzi zum Comeback, ein ehemaliger Christdemokrat. Er ist wieder zum Präsidenten der Sozialdemokraten erkoren worden und strebt Neuwahlen an, um wieder in den Palazzo Chigi, dem Regierungssitz Italiens in Rom, einziehen zu können. In den Medien wird er bereits als „Macron“ Italiens bezeichnet. Im Gegensatz zu Macron eine Wiederauferstehung. Renzi will mit seiner Partei ein starkes Gegengewicht aufbauen, um den „Movimenti 5Stelle“ (Fünf-Sterne-Bewegung) des Komikers Beppo Grillo von der Macht fernzuhalten.
Und in der Schweiz: Die bürgerliche Mehrheit, die aus den vergangenen Nationalratswahlen hervorging, bröckelt. Sie konnte sich bei der Abstimmung über das grosse Reform-Projekt „Vorsorge 2020“ nicht durchsetzen. Ihre Reformvorstellungen, die eine Stärkung der zweiten Säule zulasten der AHV vorsah, scheiterten im Ständerat. Die SVP bezog eine unerwartete Schlappe bei den Wahlen im Kanton Neuenburg; sie verlor 11 ihrer bisher 20 Sitze. Oskar Freisinger, Vizepräsident der SVP Schweiz, musste letzte Woche sein Büro im Regierungsgebäude in Sitten räumen. Er fiel bei den Regierungsratswahlen durch. Im Kanton Solothurn verlor der einst so dominante Freisinn seinen zweiten Regierungsratssitz an Brigit Wyss, an eine grüne Frau. Und in Winterthur schliesslich liess der Grüne Jürg Altweg bei den Stadtrats-Ersatzwahlen Daniel Oswald, den Vertreter der SVP, weit hinter sich.
Wird Europa zusehends rosarot und die Schweiz dazu? Erobern Sozialliberale die Macht, zieht mit ihnen eine Politik in die Regierungszentralen ein, die auf eine starke Wirtschaft und auf eine Politik mit hohen sozialen Kompetenzen setzt? Gewiss ist eines: Uneingeschränkt werden auch die Sozialliberalen in all den Ländern und insbesondere in der Schweiz nicht regieren können. Sie werden Kompromisse mit Links und mit Rechts, je nach Fall, aushandeln müssen. Zugutekommen wird ihnen, dass sie nicht aus einer fundamentalistischen Haltung heraus, nicht von einem unverbrüchlichen Parteiprogramm geprägt regieren, sondern ihre Länder schlicht lösungsorientiert in die Zukunft führen wollen. Gottlieb Duttweiler, der auf das soziale Kapital, der schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf eine starke Wirtschaft, auf eine Politik mit sozialer Kompetenz setzte, würde sich freuen. Und seine Enkel auch.
Am nächsten Sonntag um 20 Uhr werden wir wissen, ob Marcon tatsächlich ins Palais de l’Élysée in Paris einziehen wird, ob Europa tatsächlich rosasrot wird. Oder ob es Marine Le Pen gelingt, den „Schnösel, den Banker“, wie sie ihn bezeichnet, doch noch aus dem Feld zu schlagen? Macron führt aktuell in den Umfragen mit 59 zu 41 Prozent. Am nächsten Mittwoch kommt es zum abschliessenden TV-Duell. Die Umfragewerte danach werden aufzeigen, wer am Sonntag obenauf schwingen wird. Denn die Umfragen vor dem ersten Wahlgang waren erstaunlicherweise derart genau, so dass auf sie Verlass sein könnte. Eine spannende Woche liegt vor uns.