StartseiteMagazinGesellschaftDer Staatsschutz gegen Max Frisch: ein Fichenkrimi

Der Staatsschutz gegen Max Frisch: ein Fichenkrimi

„Frischs Fiche und andere Geschichten aus dem kalten Krieg“ zeigt das Literaturmuseum Strauhof, Zürich

Fast könnt‘s eine Variante des Schnellsprechvers mit den frischen Fischen sein, aber es ist ein prägnantes Schlaglicht auf den Riesenskandal, der die Schweiz 1989 erschütterte. Damals wurde im Rahmen einer Untersuchung im Departement von Elisabeth Kopp durch eine PUK, parlamentarische Untersuchungskommission, präsidiert von Moritz Leuenberger, aufgedeckt, dass Hunderttausende von Menschen in der Schweiz vom Staatsschutz systematisch bespitzelt worden waren, darunter viele Autorinnen und Autoren.

Max Frisch: «Ignoranz als Staatsschutz?» (1990), Typoskript (S. 11) Max Frisch-Archiv an der ETH Bibliothek / Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Max Frisch war damals schon sterbenskrank. Er setzte alles daran, die Einträge zu Gesicht zu bekommen, aber trotz einer Eingabe von Rechtsanwalt Ludwig A. Minelli im Namen von Max Frisch und weiteren bekannten Intellektuellen sowie später der Schreiben von Rechtsanwalt Andreas Gerwig bekam er nicht volle Einsicht. Erst jetzt zeigt der Strauhof Originale.

Max Frischs Zorn war gross genug, denn die stümperhaften Notate der Spitzel hatten ihm sozusagen seine Biographie verfälscht. Seine Enttäuschung über den Staat, dem er immer kritisch gegenübergetreten war, mündete in eine Auseinandersetzung mit der geschwärzten Fichen-Kopie, die er ausgerechnet am 1. August 1990 erstmals sichten konnte: Er vergleicht die Spitzelnotate mit seiner Lebenswirklichkeit. Konkret produziert er eine Collage, schneidet aus, klebt auf ein Blatt, kommentiert darunter mit der Schreibmaschine, meist mit „Nicht vermerkt“ beginnend. Dieses Typoskript Ignoranz als Staatsschutz? kann nun in einer Vitrine studiert werden (es ist 2015 als Buch bei Suhrkamp erschienen), dabei erlebt man fast physisch, wie gross Frischs Empörung war, dass er 43 Jahre lang bespitzelt worden war, obwohl er nie gegen die Verfassung verstossen hatte.

So könnte Max Frisch mit seiner Fiche gearbeitet haben. Illustration Julia Kuster

Fassungslos stellt er fest, dass die offensichtlich völlig ungeeigneten, weil auch ungebildeten Beobachter im Dienste des Staatsschutzes zwar notierten, mit wem er kommunizierte, dass ihnen der Gesprächsinhalt aber fremd blieb, oder dass ein zweiwöchiger Aufenthalt der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf mit ihrem Mann in seinem Haus gar nicht in den Fokus der Bundespolizeit geriet. Fassungslos sind wir, wenn wir den originalen Briefwechsel von Max Frisch und seinem Anwalt mit dem Sonderbeauftragten beim Bund lesen.

Der Fichenskandal 1989 fällt zeitlich mit dem politischen Tauwetter in Europa zusammen. Die Angst vor dem dritten Weltkrieg nimmt ab, aber 1986 wird die latente Gefahr vor einer atomaren Katastrophe mit Tschernobyl real.

Max Frisch bei Podiumsdiskussion in Basel (1989). Max Frisch-Archiv an der ETH Bibliothek. Foto: Claude Giger

Neben Frischs Fichen-Drama erzählt die Strauhof-Ausstellung neun andere Geschichten aus dem Kalten Krieg, Verfasser oder Beteiligte sind Autorinnen und Autoren, die den Diskurs um Atomangst, Feminismus, Jugendprotest oder Umweltschutz als Fiktion umsetzen oder die Realität in Dokumenten, Gesprächen und Berichten analysieren und kommentieren. Umgesetzt wurden acht von diesen Geschichten audiovisuell: Die Schauspieler Miriam Japp und Thomas Sarbacher lesen die Texte je in einer halbtransparenten Kabine mit Sitzbank, Bildschirm und Kopfhörern.

Hier ist Mariella Mehrs Brief an die Herren Kollegen zu hören. Foto: E. Caflisch

Beim Eingang hängt eine Illustration zur erzählten Geschichte, beispielsweise der Atompilz für Gertrud Wilkers 1977 verfasste Erzählung Flaschenpost über Atomangst und Bunkerkoller. Das Gespräch zwischen Otto F. Walter und Niklaus Meienberg zur Realismusdebatte, angeregt von der WOZ und Mariella Mehrs offener Brief Gopferdeckelduseckel (1984) an die Macho-Kollegen anlässlich einer Veranstaltung im Bierhübeli Bern geben Eindrücke über das Engagement der Autorinnen und Autoren, ihre Einmischung in die politische und gesellschaftliche Debatte und ihre Betroffenheit. Um Frauendiskriminierung geht es auch Laure Wyss, die fiktiv mit einer Insassin im Frauengefängnis Hindelbank korrspondiert. Friedrich Dürrenmatts abgründige Geschichte aus der Erzählung Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter (1986) könnte in der Zeit des grossen Datensammelns auch von heute sein.

Keine Videolesung gibt es zu Reto Hänny, dessen Verhaftung während der Jugendunruhen 1980 einschliesslich der juristischen Folgen eingängig die massive Repression, der die kritischen Intellektuellen ausgesetzt waren, illustriert: Bei der Festnahme wurde er mittelschwer verletzt, danach sass er fünf Tage in Einzelhaft, aber zu einer Strafklage gegen ihn kam es nie. Dagegen hatte auch seine Schadenersatzklage, die sich durch das Jahrzehnt und alle Instanzen zog, keine Chance: In den Gerichtsakten heisst es plump und zynisch, er habe sich absichtlich verhaften lassen, um sein Zürich-Ende-September-Buch zu schreiben und damit Geld zu verdienen, also habe er keinen Schaden erlitten.

Reto Hännys Knasttagebuch, später veröffentlicht als «Zürich, Anfang September» (1980). Schweizerisches Literaturarchiv

Zwei Autoren setzen sich von heute aus mit dem kalten Krieg auseinander. Während Urs Zürcher in dem fiktiven Tagebuch Der Innerschweizer (2014) sowjetische Panzer durch Basel rollen lässt, will Lukas Hartmann in seiner Story über ein Mitglied der P-26-Geheimarmee Auf beiden Seiten (2015) eine „Mentalitätsgeschichte“ jener Jahre erzählen.

Die Ausstellung ermöglicht zum einen, sich hörend auf die Texte einzulassen, was nicht ohne grosszügiges Zeitbudget möglich ist, zum anderen versammelt sie spannende Dokumente aus dem Literaturarchiv in Bern und dem Max Frisch Archiv an der ETH. Die Zeichnungen zu jeder Station sind auch im Original zu sehen, Julia Kuster hat Max Frisch beim Fichen-Schnipseln, die Diskussion zwischen Meienberg und Walter oder Mariella Mehr inmitten von Kollegen genau „getroffen“, dabei existieren diese Fotos gar nicht.

Niklaus Meienberg und Otto F. Walter: «Vorschlag zur Unversöhnlichkeit» (Realismus-Debatte) (1984). Illustration:  Julia Kuster

Sehr hilfreich ist der Reader, den der Strauhof jeweils produziert. Alle Autoren-Texte sind darin abgedruckt und mit weiterem Material unterlegt, beispielsweise mit einer kleinen Dokumentation zur 700-Jahrfeier und dem Kulturboykott im Nachgang zur Fichenaffäre. Übrigens ist der Strauhof nicht nur tagsüber von Mittwoch bis Sonntag offen, es gibt jeden Donnerstag eine lange Nacht bis 24 Uhr.

Bis 20. August 2017
Informationen zur Ausstellung sowie zu den Spezialveranstaltungen finden Sie hier.

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