Ein ästhetischer Hochgenuss ist Heinz Holligers Klangkaleidoskop „Lunea“, uraufgeführt vom Opernhaus Zürich. Reicht es auch für eine Erneuerung des Musiktheaters?
Die Strahlkraft eines Opernhauses misst sich nicht nur an der Qualität und Streubreite ihres Repertoires, sondern auch an ihren geschichtsträchtigen und wegweisenden Uraufführungen. Und da darf sich Zürich mit den Leuchtsternen von Alban Bergs „Lulu“, Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ und Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ in der ersten Reihe bedeutender Musiktheater wissen. Auch die Schweizer Komponisten Schoeck, Honegger, Sutermeister und Kelterborn erlebten hier ihre Feuertaufen, sind aber fast samt und sonders von den Spielplänen verschwunden und höchstens noch als Raritäten geschätzt. Wird es Heinz Holliger ähnlich ergehen?
„Bin ich eine Alpenlerche oder ein Kondor – ein singender Punkt am Himmel oder eine jauchzende Weltenkugel?“
Christian Gerhaher als umnachteter Dichter Nikolaus Lenau / Fotos © Paul Leclaire
Der weltberühmte Oboist und Klangtüftler Heinz Holliger ist heute auch einer der gefragtesten Komponisten, der sich vor zwanzig Jahren bereits mit „Schneewittchen“ (nach Robert Walser) in die Gefilde des Musiktheaters vorwagte. Seine Studien bei Sandor Veress und Pierre Boulez waren prägend. Was den bald 79-jährigen Komponisten im Laufe seines Werdegangs immer überzeugender auszeichnete, ist die Paarung einer umfassenden, intellektuellen Klangkultur mit einem emotional-sinnlichen Gespür fürs atmosphärische Fluidum. Es erreicht in „Lunea“ eine irisierende Eleganz und in seinem Dirigat eine bestechend durchhörbare Luzidität, die der verzweifelten Sprachkraft des Biedermeier Autors Nikolaus Lenau jederzeit das Primat der Literatur zugesteht.
Interessant ist dabei, dass ihn die Lyrik des Autors eher kalt lässt. Was ihn aber fesselte, war ein unscheinbares „Notizbuch aus Winnenthal“, einer Nervenheilanstalt, in die Lenau (1802-1850) 1844 eingeliefert wurde. Aus diesen Zetteln destillierte Holliger dann 23 Lebensblätter, die sein Librettist Händl Klaus zur kompositorischen Vorlage gestaltete. Die eingestreuten Zitate entstammen dem umnachteten Vermächtnis.
„Der Mond ist ein leuchtendes, schwebendes Grab.“
Holligers Vorlieben für tiefe Holzbläser (mit u.a. einer Kontrabass-Klarinette), einem der Volksmusik zugehörigen Cimbalon und der Suche nach sphärisch-schwebenden Klangerzeugungen, durchsetzt mit Schlagwerk, sind besonders reizvoll und verschmelzen mit den Solisten und den Basler Madrigalisten zu traumwandlerischer Entrücktheit. Der Komponist war immer wieder angetan von tragischen Aussenseitern und halluzinierenden Utopisten, die wie Lenau Trost im Untröstlichen suchten und der Melancholie und Schwermut anheim fielen. Schon Robert Schumann, Felix Mendelssohn, Fanny Hensel, Franz Liszt, Hugo Wolf, Richard Strauss und Othmar Schoeck vertonten Dichtungen des somnambulen Lyrikers, und vor fünf Jahren schrieb ja Holliger für den Bariton Christian Gerhaher bereits den Liederzyklus „Lunea“, dem nun auf Anregung von Andreas Homoki eine Musiktheaterfassung folgte.
Lenau (Christian Gerhaher), ein Frauenschwarm (Sarah Maria Sun) und Basler Madrigalisten
„Ich habe meine Augen mit Unglück gewaschen und nun einen schärferen Blick.“
Lunea ist ein Anagramm zu Lenau, aber auch Luna (Mond) steckt darin. Aus „wort» wird auch „ort“, „tor“ und „rot“ und aus „Leib“ „Beil“, „Lieb“ und „Lid“. Nach 11 1/2-Episoden wird dann nach dem Vorwärts- mit der Spiegelschrift der Rückwärtsgang zugeschaltet, was als neckische Spielerei durchgeht, aber nicht eben zwingend ist, denn was in Lenaus Kopf (nach dessen Hirnschlag) vorgeht, ist ein lähmendes Dahindämmern, bis am Ende nur noch vereinzelte Vogelstimmen im Traumland der Sehnsucht pianissimo erlöschen.
Lenau und seine Frauen (Sarah Maria Sun und Juliane Banse): zwischen allen Stühlen
Das Zürcher Opernhaus überliess nichts dem Zufall, im Wissen, dass Holliger nicht irgendein Komponist ist, sondern auch ein Hoffnungsträger für neues Musiktheater. Alles ist auserlesen an dieser Uraufführung: vom in alle Verästelungen Seelenverwandten Christian Gerhaher in der Titelrolle zu Juliane Banse als verzehrende Muse Sophie von Löwenthal (sie sang bereits das Schneewittchen), von den Mitfiebernden und Mitleidenden Sarah Maria Sun, Ivan Ludlow und Annette Schönmüller zu den auf höchstem Niveau singenden Basler Madrigalisten (Raphael Immoos). Die minutiös austarierte Inszenierung von Hausherr Andreas Homoki und die Lichtregie von Franck Evin sind an ästhetischem Flair kaum zu überbieten. Den Reigen vollenden das Bühnenbild (eine mausgraue quadratische Spielfläche in einem klaustrophobisch pechschwarzen Kasten) von Frank Philipp Schlössmann und die wunderbaren Biedermeierkostüme (bauschige Reifröcke und Zylinder in blau-schattierten Grautönen).
„Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit.“
Die neue Sichtweise auf das Musiktheater verdient ein aufgeschlossenes Publikum, das hinzuhören weiss, was Holliger an flirrender Endzeitstimmung und gleissendem Klangzauber in seine Partitur integriert und wie daraus ein Gesamtkunstwerk entstanden ist, das hoffentlich meine anfängliche Frage positiv beantwortet.
Weitere Vorstellungen: März 8, 13, 15, 18, 23, 25