Zwei Generationen, zwei Kulturen, zwei Welten: eine Passion. Giancarlo Moos dokumentiert in seinem Film unterhaltsam, wie zwei Menschen mit Respekt und gutem Willen Grenzen erfahren.
Der Dokumentarfilm «Ly-Ling und Herr Urgesi» handelt vom Zusammenarbeiten zwischen dem traditionellen Feinmassschneider Cosimo Urgesi und der Modedesignerin Ly-Ling Vilaysane. Cosimo arbeitet seit Jahrzehnten nach festen, über Generationen vermittelten Regeln. Das beisst sich zwangsläufig mit Ly-Lings Herangehensweise des «Draufloskreierens» ohne einengende Normen. Trotz gegenseitigem Respekt und dem Willen, zusammen etwas auf die Beine zu stellen, stossen Ly-Ling und Cosimo bei dieser Herausforderung an Grenzen. Regisseur Giancarlo Moos gibt uns einen intimen Einblick in die Welt seiner Protagonisten und dokumentiert mit sensiblem Auge, wie sie sich in witzigen Szenen pointierte Wortgefechte liefern und um ihre Auffassung vom Metier kämpfen. Entstanden ist eine sympatische Komödie über den Zusammenprall von Kulturen, mit zwei charmanten Persönlichkeiten. Cosimo, Italiener der prima generazione aus Apulien angehörend, Ly-Ling, eine Seconda mit laotischen Wurzeln repräsentieren zwei unterschiedliche Schweizer Einwanderergeschichten. Und so wird es ein Aufeinanderprallen zweier Generationen, zweier Kulturen und zweier Überzeugungen, eine Culture-Clash-Komödie, verbunden in einer gemeinsamen Passion, der Schneiderei.
Cosimo, der Feinmassschneider
Im Laufe der sich über eineinhalb Jahre erstreckenden Dokumentation erfahren wir, wie sich Ly-Ling und Cosimo aus dem Weg gehen, sich wieder annähern, angepasste, vereinfachte Ziele neu angehen, wie Träume über Bord geworfen werden und neuen Platz machen. Ly-Ling und Cosimo sind Repräsentanten zweier unterschiedlicher Einwanderer-Generationen, die sich beide erfolgreich, wenn auch anders integriert haben. Die Gemeinsamkeit verbindet, schafft eine Vertrautheit, die nebst der gemeinsamen Passion, der Schneiderei, das Fundament bildet, auf dem die beiden trotz wachsender Konflikte aufbauen können.
Die Faszination für die Arbeit des anderen und die Lust am Entdecken, am In-die-Tiefe-Gehen verbindet die beiden. Es ist eine lebensbejahende Grundhaltung, die trotz der Entbehrungen tiefe Befriedigung mit sich bringt. Genauso soll der Film Lust auf Neues machen, aufs Ausprobieren, aufs Riskieren, aufs Überschreiten von Grenzen und Überspringen des eigenen Schattens.
Ly, die Modedesignerin
Directors Note
«Im April 2016 besuchte ich meine Protagonisten zum ersten Mal und arbeitete daraufhin praktisch nahtlos an den Dreharbeiten. Ly-Ling Vilaysane lernte ich bereits 2013 anlässlich der Designmesse „Designgut“ in Winterthur kennen, in deren Auftrag ich ein fotografisches Porträt über sie und ihr Label „aéthérée“ erstellte. Seither blieben wir in losem Kontakt und informierten uns hin und wieder gegenseitig, woran wir gerade arbeiteten. Als ich Anfang 2016 wieder einmal in St. Gallen unterwegs war, wo Ly-Ling ihren Showroom und ihr Atelier in der Nähe des Bahnhofs betreibt, schickte ich ihr spontan eine SMS, um mich nach ihr zu erkundigen.
Sie sei gerade auf dem Weg zum letzten Feinmassschneider der Stadt, zu Signor Urgesi, einem über 70-jährigen Vertreter der alten italienischen Schule, antwortete sie. Da sie sich stark für die Kunst der Feinmassschneiderei interessiere, dürfe sie ihm seit Neuestem über die Schultern schauen. Ich schrieb ihr zurück, dass ich das sehr spannend fände, dachte mir aber nichts weiter dabei. Zwei Monate später überraschte mich Ly-Ling mit einer SMS: “Du wirst es nicht glauben, der Schneider ist jetzt bei mir ins Atelier eingezogen.” Sofort rief ich sie an und sagte ihr: “Ly-Ling, das ist ein Film! Ich möchte vorbeikommen und mit euch beiden reden.” Diese Geschichte interessierte mich auf Anhieb, obschon ich Cosimo Urgesi damals noch gar nicht kannte.
Welche Rolle würden ihre Migrationsbiografien, die unterschiedlichen kulturellen Backgrounds und der Altersunterschied bei dieser Kollaboration spielen? Gleich am Tag darauf besuchte ich Ly-Ling und Cosimo im Atelier, wo ich ihnen bei einem ersten Treffen erläuterte, dass ich sie gerne für mindestens ein halbes Jahr mit der Kamera begleiten wolle. Sie erklärten sich, ohne zu zögern, einverstanden. Es wurden dann eineinhalb Jahre, während derer ich durchschnittlich einen Tag pro Woche bei den beiden in St. Gallen verbrachte.
Das unvoreingenommene Zusammenspannen dieser zwei eigenwilligen Persönlichkeiten faszinierte mich. Ihre positive und offene Grundhaltung liess sie gar nicht erst daran denken, dass ihr Projekt auch grosses Konfliktpotential in sich barg und die beiden aufgrund ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen und Ansichten über das Metier auf die Probe gestellt wurden. Als die beiden zusammenkamen, handelten sie aus einem Gefühl und aus ihrer gemeinsamen Leidenschaft für die Arbeit. „Wir könnten doch einmal zusammen etwas probieren.“ Ohne Verträge oder Absicherungen. Es braucht manchmal eine positive Naivität, damit Projekte entstehen können.»
Die beiden in der Auseinandersetzung
Die Geschichte einer speziellen Begegnung
«Der Feinmass-Schneider Corsimo Urgezi zieht ins Atelier der Modedesignerin Ly-Ling Vilayano. Zwei Lebensspuren kreuzen sich. Es beginnt eine Zusammenarbeit.» Mit dieser Einleitung beginnt der stille, feinsinnige, letztlich tiefsinnige Film des Zürcher Dokumentarfilmers Giancarlo Moos. Er begleitet die beiden Mitglieder der Schneiderzunft von ganz nah, weil sie ihn interessieren und er sie ernst nimmt. Und dabei hält er fest, was und wie die beiden miteinander reden, manchmal auch schweigen. Nicht nur die Sprache der Laute wird festgehalten, sondern auch die Sprache der Gestik und Mimik: der Hände, der Finger, der Haltung der Körper. Eingestimmt und vertieft werden diese Gespräche durch die Musik von Samuel Fried, die das Alltägliche in etwas Sphärisches wandelt.
Diese Inhalte – der Umzug, die Wege, die Arbeit – sind drei Phasen eines Prozesses von allgemeingültiger Bedeutung. Wer hat solches nicht schon durchgemacht? Einen Umzug von da nach dort mit möglichen Komplikationen; das Sich-Kreuzen von Lebenswegen mit Unerwartetem; der Entscheid oder der Zwang zur Zusammenarbeit. Phasen im Leben, deren tieferer Sinn Martin Buber in seinem «Dialogischen Prinzip» umschrieben hat: «Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es. Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. Denn das Ich des Grundworts Ich-Du ist ein anderes als das des Grundwortes Ich-Es.» Der im ersten Blick einfache Film besitzt also einen Hintergrund mit tiefer menschlicher Bedeutung. Da der Dialog in einer Arbeit, einer Zusammenarbeit endet, und da diese Auseinandersetzung in zwei Immigrationsgeschichten abläuft, macht den Film zusätzlich aktuell und modern.
Ab 3. Oktober im Kino
Regie: Giancarlo Moos, Produktion: 2019, Länge: 81 min, Verleih: Moos Film