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Zum Filzkurs nach Kirgistan

Eine Textilstudienreise in die kirgisische Republik führt über das Kunsthandwerk des Shirdak-Nähens, der Herstellung von Teppichen aus Filzmatten, hinaus und vermittelt einen nachhaltigen Einblick in die Kultur der nomadischen Weidewirtschaft Zentralasiens.

Seit Jahren träumte ich von Kirgistan, der Heimat von Tschingis Aitmatow, dessen Bücher ich immer wieder lese. Es ist die Weite der Natur, die Schafherden, der riesige Bergsee Issyk Köl und die Schneegebirge, die das Besondere dieser Landschaft ausmachen.

Im Land des Dichters Tschingis Aitmatow

Ich hatte über die traditionellen Behausungen in Kirgisien, die Bos üj, die grauen Häuser, in der Frühlingsausgabe 2018 des Magazins filzfun gelesen, nun wollte ich das Land mit den Filzjurten kennen lernen und meldete mich für eine Reise an, um mit Istvan Vidak vom Verein Filz-Netzwerk die Landschaft und deren Textilien kennenzulernen.

Fünf Filzbegeisterte trafen sich am frühen Morgen in Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans, mit Istvan Vidak und Zoltàn Dénes, der während unserer Reise einen Film zum 70. Geburtstag von Istvan drehte.


Jaël Labhart (rechts) mit Reisegefährtinnen beim ersten Versuch, einen kleinen Shirdak herzustellen.

Unser erstes Ziel: Tamchi am Issyk Köl, einem riesigen See in den Bergen. Hier waren wir Gäste von Kendjekan «Kendje» Toktusunowa, einer Meisterin des Filzens und Schamanin. Grossherzige Gastgeberin war sie erst noch! Wie es die Tradition will, sind wir mit einem reichgedeckten Teetisch begrüsst worden. Da fehlten nicht verschiedene Konfitüren, frisches, selbstgebackenes Brot und Schalen voller Süssigkeiten.

Das Vorzeichnen des Musters mit Kreide geht schnell und präzis.

Von Vorfahren überlieferte Geschichten zur Nomadenkultur, zur Gesellschaftsstruktur der Familien und zur Symbolik brachten uns dieser traditionellen Weidewirtschaft näher und liessen uns staunen. Wie viele Eichhörnchenfelle waren nötig, um ein Schneeleopardenfell einzutauschen? Kirgisien liegt an der Seidenstrasse – dem Handelsweg aus alter Zeit – , war im 20. Jahrhundert Teil der UdSSR und ist heute eine eigenständige Republik.

Traditionelles Motiv – einmal dunkel auf hell, einmal hell auf dunkel

Am zweiten Tag werden wir in die Technik des Shirdak-Nähens eingeweiht und dürfen auch selbst mit der Arbeit an einem kleinen Teppich beginnen. Kendje zeigt uns viele kleine «Zaubereien», Tricks für diese für uns neue Handarbeit. Wie Kendje mit sicherer Strichführung die Kreide ohne Vorlage über den leeren Filz führt: Aus der offenen Schlangenlinie auf einem Achtel des Filzstücks entsteht wie durch ein Wunder durch mehrmaliges Falten auf den Spiegelachsen das ganze regelmässige Muster. Nun wird der Filz auf ein gleich grosses, andersfarbiges Stück gelegt, zusammengeheftet und das Motiv mit einem scharfen Messer durch beide Filzmatten zugleich ausgeschnitten. Beim Austauschen der inneren und äusseren Filzmusterteile entsteht der positiv-negativ-Effekt der Arbeiten mit dem gleichen Motiv.

Über der Naht wird die Arbeit mit zwei gegengleich gedrehten Kordeln bedeckt.

Das mosaikartige Zusammennähen der beiden Teile und das Überdecken der Filznähte mit zwei gegenläufig gedrehtenKordelnist nicht ganz einfach. Schliesslich haben wir selbst unseren Shirdak genäht, den ersten! Früher schenkte die Näherin das Gegenstück jeweils ihrer Schwester oder Tochter. Wer hat wohl das Pendant, das «Schwesterchen» bekommen?


Petroglyphen aus der Skytenzeit zeigen zumeist Tierbilder oder Jagdszenen.

Am dritten Tag besuchen wir das Museum in Tscholponata, die Felszeichnungen aus dem vorchristlichen Jahrtausend in der Nähe und das neu gebaute Nomadenmuseum in Omok. Kendje machte dem Museum ein geschichtsträchtiges Geschenk, einen Shirdak, der an den Krieg und das Soldatendasein erinnert. Solches Leid wird hoffentlich nicht wiederholt, ist unsere leise Hoffnung.


Kendje (rechts im Bild) schenkt dem Museum einen Shirdak, der an den Krieg erinnert.

Beim Jurtenbau, aber auch zur Verzierung der Kleider dürfen gewobene Bänder nicht fehlen. Die Muster und Machart dieser Bänder variieren je nach Gegend. Tutkan Apa aus Djalalabad, ebenfalls zu Besuch bei Kendje, demonstriert uns das Einrichten der Webarbeit und zeigt die Kunst des Webens. Kaum zu glauben, wie diese Frau mit ihren 78 Jahren behende vorgeht und geschickt zum Ziel kommt. Alle althergebrachten Muster kennt sie natürlich auswendig! Auch Tutkan hat dem Nomadenmuseum einige Kunstwerke mitgebracht. Am Abend zeigt uns Kendje ein ganz besonderes Stück, ihren Hochzeitsteppich, den sie vor vielen Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekam. Die Symbolik ist vielschichtig und ein Omen für ihr Leben.


In einem Arbeitsgang gezeichnet und zugeschnitten und am Ende doch so unterschiedlich. Diese beiden Shirdak sind nun in der Schweiz, erworben von zwei der Reiseteilnehmerinnen.

Der Abschied von Tamchi, auch von unserer Übernachtungs-Unterkunft und der Gastfreundschaft im Haus von Bagtegül, ist allen schwer gefallen. Die Spaziergänge zwischendurch am Ufer des Yssyk Köl, des zweitgrössten Gebirgsees der Erde, die Stimmungen zu verschiedenen Tageszeiten, haben uns tief beeindruckt. Der See auf 1600 Meter über Meer friert nie zu, auch wenn die Luft bei 20 Minusgraden liegt.

Was noch ein Gerüst ist, wird mit Filzbahnen bedeckt: eine Jurte entsteht.

Doch auch die Weiterfahrt an unseren zweiten Aufenthaltsort, dem Jurtenbauerdorf Kisil-Tu, zu Sapar Ismailov und die vielen Begegnungen in Bökönbaev , einem der kleineren Zentren von Ost-Kirgistan, sind eine Bereicherung. Da die Handwerker am Freitagnachmittag nicht arbeiten, ergreife ich die Gelegenheit, um in der freien Zeit die Umgebung des Dorfs zu erkunden. Alleine in dieser beeindruckenden Landschaft, wie eingetaucht in die Welt von Tschingis Aitmatow – damit ist mir ein grosser Wunsch erfüllt worden.


Weites Land für die nomadische Viehwirtschaft: Hier entsteht die Wolle fürs Filzen.

Das Städtchen Kotschkor mit rund zehntausend Einwohnern ist Ausgangspunkt für ein letztes Eintauchen in die Kunst des Filzens und die Nomadenkultur der Kirgisen. Wir durchstreifen den lokalen Markt und decken uns mit so manchen Kleinigkeiten ein, die uns lange begleiten werden, unter anderen mit einer riesigen Fadenspule für weitere Shirdak-Projekte, einer praktischen Auftrennschere zum einhändigen Gebrauch, Gewürzen und kleine Mitbringsel, die im Gepäck grad noch Platz haben. Im Handwerkerladen von Fatima Ayipova bewundern wir nicht nur Shirdaks in Naturfarben, sondern auch moderne Variationen, die typischen Männerhüte, Stickereien und Alakiyz (gefilzte Sitzkissen).

Bandweberei ist kunstvolle und schwere Arbeit

Vom nahen Dorf Kara Su aus dürfen wir mit Asipa einen langen Ausritt unternehmen, nicht für alle von uns gleich genüsslich! Die Pferde wollten lieber Wasser aus den Bewässerungskanälen trinken und an den spärlichen Grashalmen zupfen als uns durch die weite Landschaft tragen. Doch nach einem Halt an einem grossen Wasserreservoir-See geht es abwärts, und die Tiere wollen uns eher gehorchen.

Am letzten Tag besuchen wir unweit von Kotschkor, die antike heilige Stätte Tündük Jayloo (= Jurtendach Sommerweide); heute steht dem Heiligtum ein Imam vor. Wie andere Pilger umrunden wir den heiligen Berg und holen uns aus den Felsen Kraft und Zuversicht. Das Schaf, das die einheimischen Pilger zum gemeinsamen Essen frisch zubereiten und das so herrlich über dem Feuer brutzelt und duftet, gönnen wir ihnen.

Filz und Wolle in leuchtenden Farben liegen für die Teppichherstellung bereit.

Am Nachmittag besuchen wir die Färberin Guljan Kasmalieva, wo wir über das Färben von Kordeln und Filz instruiert werden sowie Shirdaks bewundern dürfen. Hier werden wir zu einer letzten reich gedeckten Teetafel eingeladen. Hier können wir auch aus der Nähe das traditionelle Wickeln und Einpacken eines Säuglings in die tragbare Wiege verfolgen, auch wie darin der Urin abgeleitet wird: Wie ruhig das Kleinkind das alles mit sich geschehen lässt!

Vor der Abreise aus Bischkek war eigentlich der Besuch auf dem Osh Bazaar vorgesehen. Die Museen waren am 1. Mai jedoch geschlossen und es regnete den ganzen Tag in Strömen – ein traurig-feuchter Abschied nach einer reichen Woche Kirgistan, in der wir mehr erlebt und erfahren haben, als wir uns je hätten vorstellen können.

Beitragsbild: Ausschneiden des Musters mit scharfem Messer
Fotos: © Jaël Labhart

Eine Auswahl empfehlenswerter Websites:
a) Reisen:
CBTKochkor (unterstützt von Helvetas)

Ökotourismus (unterstützt von NGOs)
Jailoo Tourism Communitiy (Reisen von Jurte zu Jurte)
b) Filzen:
Filzszene Schweiz
Sonkol in Winterthur unterstützt Frauenkooperativen in Kirgistan.

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3 Kommentare

  1. Wunderbarer Beitrag, welcher mich an meine vielen Reisen nach Kirgistan erinnert.
    2003 bis 2011 verbrachte meine Tochter mit ihrem Mann und ihren damals ganz kleinen drei Buben in diesem faszinierenden Land, wo ich (wir) sie jedes Jahr besuchten.
    Gratulation zum treffenden Text und den sehr schönen Fotos!

  2. Rosmarie Egli
    Reisen und sich damit auch handwerklich einer Region, einem anzunähern finde ich wunderbar, völkerverbindend und erst noch äusserst attraktiv.
    Sowohl Bilder als auch Beschreibung rufen förmlich nach einem Buch!
    Herzlichen DANK!

  3. Wunderbarer Artikel, denn mein Traum wäre es auch einmal die Heimat von Tschingis Aitmatow zu erleben. Vor Jahren hat uns eine Frau beim Fraue Z’morge in Sigriswil darüber berichtet, hatte auch Kissen und Taschen zum Verkauf dabei. Ich kaufe eines. Dieses Kissen habe ich genau angeschaut, es hat das erwähnte Muster in den gleichen Farben und…..als ich es umdrehte Löcher im Filz, ich glaube da tummeln sich gerade Filzläuse oder so etwas….oh Schreck….. bin also gerade beschäftigt…..
    Herzliche Grüsse Karin Mulder aus Thun

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