Haben Sie sich schon mal Statistiken zur Zufriedenheit angeschaut? Interessanterweise sind ältere Menschen in der Regel zufriedener als Jüngere. Ich habe mir immer wieder überlegt, wie diese Ergebnisse zu lesen sind. Es ist ja nicht so, dass das Älterwerden ganz ohne Probleme funktioniert. Man muss Verluste der eigenen Gesundheit hinnehmen, man verliert Freunde und das Ende rückt immer näher.
In einem Buch von Arthur C. Brooks stiess ich kürzlich auf eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen: Er meinte, dass Menschen in der zweiten Lebenshälfte ihre Wünsche anpassen. Brooks beschreibt die Zufriedenheit als Gleichung: Im Zähler, also oberhalb des Bruchstriches steht alles, was man hat. Unter dem Bruchstrich, im Nenner, steht alles, was man will. (Zufriedenheit = was man hat : was man will) Wer also grosse Wünsche und Träume hat und nur einen Teil davon verwirklichen kann, ist weniger zufrieden als jemand, der sich nicht an Wünschen orientiert, sondern an Möglichkeiten. Und diese kompromisslos wahrnimmt. Das Geniessen des Momentes wird vermutlich einfacher, wenn man älter wird. Denn der Zwang, Grosses zu leisten, ist nicht mehr da, die Zeit auch nicht. Und man hat nicht mehr viel zu verlieren.
Ich möchte das an drei Beispielen illustrieren: Mein Vater wollte nicht viel, also störte es ihn auch nicht, dass er nicht so viel hatte. Fazit: Er war zufrieden. Eine Kollegin hat eigentlich recht viel, aber sie möchte immer etwas mehr. Fazit: Sie ist selten zufrieden. Ein befreundetes Ehepaar will viel und hat auch viel. Fazit: Sie sind zufrieden – aber mathematisch gesehen nicht unbedingt zufriedener als mein Vater, der wenig hatte und wenig wollte.
Literatur: Arthur C. Brooks. Der beste Rat für ein gutes Leben.
Dr. Antonia Jann ist Gerontologin und Organisationsberaterin. Sie informiert sich regelmässig über neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Altersforschung. Antonia Jann führt eine Coaching-Praxis in Zürich und hat sich spezialisiert auf Fragestellungen, die Menschen in der zweiten Lebenshälfte beschäftigen. www.jann-coaching.ch
Brooks’ Gleichung scheint mir doch etwas gar einfach. Mein Beispiel: Eigentlich möchte noch einmal den Weg quer durch Frankreich bis ins baskische Santander nehmen. Nicht mehr per Autostopp, sondern mit einer “voiture sans-permis», nicht mehr in Jugis, sondern ausschliesslich in Häusern der Slow-Food-Bewegung Halt machen. So völlig kompromisslos geht das einfach nicht. Will ich das wirklich oder will ich mir das wirklich antun? Bin ich eben nun mal achtzig oder bin ich eigentlich erst achtzig? Die Bilanz meines Lebens ist immer noch auf der guten Seite. Zufriedenheit ist nicht mit einer Bruchrechnung zu definieren. Und: Wer nicht mehr gross träumt, hat schon verloren.
Meiner Erfahrung nach sind immer diejenigen unzufrieden, die zu grosse Anforderungen an die Gesellschaft stellen, welche sie meistens selber nicht erfüllen. Mitschuldig ist eine Politik, die unrealistische Ziele vertritt um sich beliebt zu machen.
Für mich geht Ihr Fazit nicht auf. Ein gelebtes Leben ist doch weit mehr als soll und haben. Die Bilanz des Lebens ist so verschieden, wie der Mensch selber und hängt von vielen Faktoren ab. Z.B. ob die blinden Flecke aufgearbeitet wurden und keine Leichen mehr im Keller sind und ob es ihm gelingt, die verbleibende Lebenszeit mit einem freien Geist und allen Sinnen zu geniessen. Dann kommt die Zufriedenheit von ganz allein.