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Internet kann auch Kultur

Kulturveranstaltungen wie Theater- und Museumsbesuche oder Lesungen und Konzerte gab und gibt es in diesen Pandemiezeiten vorwiegend online. Das Buch World Wide Wunderkammer zeigt auf, was diese digitale Kulturrevolution bedeutet.

Das Streaming ergänzt lineare Veranstaltungen wie das Fernsehen, die Filmvorführung im Kino, die Aufführung einer Oper oder den Besuch eines Museums. Seit jedoch die Pandemie die ganze Welt in Atem hält, steigt das Interesse für digitale Kulturveranstaltungen, und die Institutionen strengen sich an, die Wünsche ihrer ausgesperrten Besucher zu erfüllen, ihnen wenigstens so weit wie möglich entgegenzukommen. Was die Popkultur einer digitalaffinen Generation bietet, macht so langsam auch Internetverächter neugierig, seit uns Corona ans Haus und somit an die eigenen elektronischen Geräte wie Computer, Smartphone oder Tablet fesselt.

Seit Monaten mit Zoom: Die Redaktionskonferenz von Seniorweb. Foto: © E. Caflisch

Mailen können wir längst, Browser und Suchmaschine verwechseln wir nicht mehr. Ferien buchen und Fotos verwalten – alles kein Problem. Auch Chatten und Bilder versenden ist uns vertraut. Aber eine Oper von drei Stunden Länge am Computer schauen, oder die geschlossene Museumsausstellung digital besuchen, das ist vielen Neuland, denn so lange wir reisen konnten, schauten wir im Internet bestenfalls Öffnungszeiten oder Programminformationen nach. Und den meisten Kulturinstitutionen war das Internet vor allem Marketinginstrument.

Das hat der Musikjournalist und Professor für Musik und Medien in Dortmund Holger Noltze auch feststellen müssen, als er recherchierte, wie Kultur ins Internet und zu den Nutzern kommt. Geschrieben hat er sein Buch vor dem ersten Lockdown, trotzdem musste er nur den Anfang und das Ende neu formulieren. Sein Buch heisst World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution.

Holger Noltze, Musikjournalist und Professor an der TU Dortmund. © H.Noltze

Noltze will einem im weitesten Sinn kulturinteressierten Publikum mit seinem munteren Sachbuch das Internet als Medium von ästhetischen Erfahrungen und kulturellem Mehrwert näher bringen. Es ist auch eine Aufforderung an Museen und Bühnen, ihr Potential bei der Digitalisierung umfassender auszuschöpfen, als nur gerade die Sammlung zu digitalisieren, einen Trailer zum Konzert online zu stellen und den Ticketverkauf über die Homepage abzuwickeln.

Die Wunderkammer ist ein Begriff aus der Neuzeit. Damit wurde ein Kabinett bezeichnet, in dem fürstliche Sammler ihre Schätze aus aller Welt in einer Art Ausstellung unterbrachten. Meist war es ein wildes Sammelsurium von Tierpräparaten, religiösen Kleinskulpturen, seltenen Werkzeugen, anatomischen Modellen von Schwangeren, aber in die Wunderkammer kamen auch Ölbilder, Weltkarten oder der Federschmuck aus irgend einer Ethnie. Systematik und Ordnung gab es nur in Ansätzen, das war für den Sammler und seine staunende Klientel nicht wichtig. Mit der Wunderkammer, angewendet aufs WorldWideWeb hat Noltze den passenden Begriff gefunden. Denn das Buch zielt darauf ab, die Überfülle aller erhältlichen Information so zu ordnen, dass ein Surfer nicht irgendwann verzweifelt aufgibt, weil ihm Google, Spotify und Youtube viel mehr als er möchte, aber nicht das, was er wirklich sucht, anbieten – den Datenkraken und den Algorithmen sei dank.

Das «Digitorial» zur Rembrandt-Ausstellung des Frankfurter Städel-Museums geht online, Tickets sind erhältlich.

Was also macht das Netz mit Kunst und Kultur? Und wo stehen wir? Noltze analysiert sowohl die Seite des Angebots als auch der Nachfrage. Etwa wie sich ästhetische Erfahrung und Erleben verändern, wenn jeder jederzeit jede Musik im Internet abrufen und hören kann. „Ich finde das nun nicht gleich alles nur eine Katastrophe – jede Beethoven-Sinfonie, die nicht ordnungsgemäß im Konzerthaus XY gehört wird, ist sozusagen vergeblich“, sagt Noltze. In der Praxis allerdings sei es oft „eine Katastrophe“, was einem im Netz angeboten werde.

In der Flut von Angeboten nur schon an klassischer Musik kann eben alles sein: Echte Fundstücke, wertvolle Inhalte und Trash. Die World Wide Wunderkammer ist ohne Grenzen, aber auch ohne Orientierung. Was ein Netzaktivist wie Noltze ist, macht sich Gedanken, wie das Riesenangebot in sinnnvolle Bahnen zu lenken ist. Zum Netzpropagandist, den er im ersten Teil beschreibt, kommt im zweiten Teil der Netzpädagoge dazu, kein Tutor, kein Oberlehrer, ein freundlicher Begleiter durch das Netz. Noltze nennt ihn Kurator und zeigt auf, nachdem er sich witzig, flott und ironisch über die allgemeine digitale Dummheit verbreitet, wo der Rettungsring ist, der einen aus der Überschwemmung von Musikangeboten retten könnte.

Schon seit 2008 gibt es die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. Jährlich werden rund vierzig Konzerte aufgezeichnet. Wer sich das Jahresabonnement leistet – «etwa so viel wie der billigste Platz in der Tonhalle Maag», sagt einer, der noch vor einem Jahr nie dachte, dass er mit einer guten Anlage über den Computer fasziniert den Philharmonikern und ihrem Dirigenten Kirill Petrenko zuhört – und zuschaut.

Ein Konzertstream bietet, wenn er auch seitens der Videoequipe (Lichtsetzung, Bildregie, Tonregie, Liveschnitt) so erstklassig ist wie eben bei den Berlinern, einen Mehrwert: Der Dirigent ist genau da von vorn aufgenommen, wenn man sich das wünscht, gleiches gilt für den Flötisten, die Hörner, das Schlagwerk, ohne dass die Totale des Orchesters zu kurz käme.

Die Institutionen haben dazugelernt, wer regelmässig Opern streamt, kann bei Hoffmanns Erzählungen, der neuesten Premiere im Zürcher Opernhauses, so richtig eintauchen, während alte Aufzeichnungen mit unsensibler Bildregie einen geschlossenen Auges auf den Ton ausweichen lassen.

Der Autor ist beteiligt an einer Plattform für alle die klassische Musik schätzen und gern über neues informiert werden, aber auch im Archiv der aufgezeichneten Musik umsehen wollen. takt1 bietet einen umfassenden Service mit Newsletter, mit Konserven, Konzerten und Geschichten zur Klassik im weitesten Sinn, Neutöner inklusive.

Was übrigens den Horizont erweitert: Dank Streaming auch mal über den Hag gucken, ein Theaterstück irgendwo auf der Welt, ein Festival fernab von Zuhause, das Städel-Museum in Frankfurt geniessen. Letzteres lobt Noltze für seinen digitalen Auftritt speziell: Das ausgeklügelte Angebot für zuhause ermöglicht Einführungen in Ausstellungen sowie diverse Führungen durch die Bilderwelt, aber man kann auch kostenfrei durch die Sammlung surfen.

Das Zürcher Opernhaus meldet: Das Video on Demand der Aufzeichnung von «Semele» aus dem Jahr 2007 steht von Freitag, 7. Mai, um 18.00 Uhr bis Sonntag, 9. Mai 2021, um 24.00 Uhr kostenlos zur Verfügung. Foto: © Susanne Schwiertz

Gewiss, digitalisierte Malerei ist weit entfernt von der direkten Ansicht eines Gemäldes, bei der man Farbgebung und Textur genau studieren kann, so wie die akustische Erfahrung im Konzertsaal unersetzlich bleibt. Vielleicht können wir in ein paar Monaten wieder frei zirkulieren – mit Maske und Abstand. Was die Pandemie uns jedoch an digitaler Kultur bescherte, wird nicht wieder zurückgefahren. Davon hat uns Holger Noltze überzeugt.

Titelbild: Das Städel-Museum Frankfurt hat ein reiches digitales Angebot. Hier ein Blick auf eins der bekanntesten Bilder der Sammlung.

Holger Noltze: World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution. Edition Körber, Hamburg 2020. 256 Seiten. ISBN: 978-3-89684-280-0

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