StartseiteMagazinKulturWortschnipsel werden zu Poesie

Wortschnipsel werden zu Poesie

Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009, zeigt im Museum Langmatt in Baden erstmals in der Schweiz ihre lyrischen Collagen.

Das Museum empfängt seine Besucher im gediegenen Ambiente der historischen Villa. Man gelangt durch die eleganten mit glitzernden Kronleuchtern und impressionistischen Werken ausgestatteten Salons in den ausgeräumten und leicht abgedunkelten grossen Galerieraum. Hier sind 140 kleine Postkarten mit lichtempfindlichen Collagen von Herta Müller aus der Werkserie Der Beamte sagte ausgestellt. Eng aneinandergereiht, sind sie in einer langen horizontalen Linie an der Wand befestigt und entsprechen in der Abfolge dem gleichnamigen Buch mit insgesamt 157 Abbildungen.

In der ausgeräumten Galerie kann man auf einer Linie von links nach rechts im Uhrzeigersinn Herta Müllers lyrischer Biografie auf den Collageblättern folgen. Foto: rv

Herta Müller lebt seit 1987 in Berlin und gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart; 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis. 1953 kam sie in Nitzydorf in Rumänien zur Welt, wo sie der deutschsprachigen Minderheit der Banater Schwaben angehörte. Nach dem Germanistik- und Rumänistik-Studium arbeitete sie als Übersetzerin in einer Fabrik. Hier wollte der Geheimdienst Securitate sie für den Spitzeldienst anwerben. Durch ihre Weigerung verlor sie die Stelle, arbeitete als Lehrerin und begann zu schreiben. In zensierter Form konnte sie 1982 ihr erstes Buch Niederungen in Bukarest veröffentlichen und bekam vom rumänischen Schriftstellerverband einen Debütpreis.

Herta Müller, Foto: © Stephanie von Becker

In ihren Büchern schreibt Herta Müller von den traumatischen Erlebnissen während der kommunistischen Diktatur in Rumänien. Aber als sie 1987 nach Deutschland aussiedelte und endlich glaubte, der Überwachung entkommen zu sein, folgten weitere Verhöre, diesmal im Westen Deutschlands. Als Aussiedlerin kam sie zuerst in ein Auffanglager in Nürnberg, wo die Landsmannschaft der Banater Schwaben sie als rumänische Agentin verleumdete. Im Gespräch mit den Beamten des Bundesnachrichtendienstes erlebte sie erneut das Trauma der Vergangenheit. Davon erzählt die Schriftstellerin in ihren Romanen und Gedichten; und ganz besonders in ihren Collagen.

Herta Müller, Ohne Titel, 2020, Papiercollage.

Seit mehr als dreissig Jahren arbeitet Herta Müller an Collagen. Die ersten entstanden 1989 als Postkarten an ihren damaligen Ehemann Richard Wagner, ebenfalls ein rumänisch-deutscher Schriftsteller, der in Berlin lebt. Mittlerweile umfasst das Konvolut über 1600 Unikate. Die Collagen in der Langmatt beziehen sich inhaltlich erstmals aufeinander und bilden eine Art poetische Autobiografie, ausgehend von ihrer Ankunft im westdeutschen Auffanglager.

Für ihre Collagen schneidet Herta Müller aus Zeitungen, Zeitschriften und Werbeprospekten Wörter aus und klebt die Wortschnipsel zu kurzen poetischen Texten zusammen. Unsere erste Assoziation sind Erpresserbriefe oder auf Papier geklebte Buchstaben und Wörter aus der Kinderzeit. Doch in Rumänien gab es zu wenig bedrucktes Papier, so dass Herta Müller diesen «Luxus» erst im Westen praktizieren konnte. Die Typografie der Wörter auf den Karten ist nicht einheitlich, trotzdem wirkt das Schriftbild mit der zusätzlich aufgeklebten Grafik stimmig und macht aus den Postkarten visuelle Kunstwerke. Meistens ohne Interpunktion finden die Worte zu einem Rhythmus, auch zum Reim.

Herta Müller, Ohne Titel, 2020, Papiercollage.

Ihre verstörenden Erfahrungen übersetzt Herta Müller in den Collagen in zarte, auch skurrile Texte. Die Protagonistin sieht sich mit absurden Fragen und erfundenen Anschuldigungen des Beamten Herr Fröhlich von der Prüfstelle B konfrontiert. Wirklichkeit und Erinnerung verschmelzen. Wiederkehrende Figuren erscheinen, etwa der Vogel mit dem Silberkragen, die Wachsnasige, die stark geschminkte Dame mit dem russischen Akzent, das Zebra oder die Frau mit dem Dutt in der Kantine, deren Bruder wegen Landesverrats im Gefängnis sitzt.

Die bedrückenden Ereignisse balancieren in den Arbeiten zwischen heiterer Zerbrechlichkeit und abgrundtiefem Schrecken. Blatt für Blatt folgt man der Poesie und ihrer Fähigkeit, das Unsagbare zu berühren. Souverän verbindet Herta Müller die Gattungen Lyrik, Collage und Erzählung zu einem suggestiven, symbiotischen Werk und lässt einen mitunter leer schlucken und staunen.

«Die Ausstellung mit Herta Müller ist ein Glücksfall für Baden», sagt der Museumsdirektor Markus Stegmann. Mehr als eine Anfrage an den Verlag brauchte es nicht, um die renommierte Schriftstellerin für ihre erste Ausstellung in der Schweiz zu gewinnen. Es ist nicht das erste Mal, dass das Museum bildende Kunst und Sprache verbindet. Für die Ausstellung Stimmen der Zimmer, wir berichteten darüber, arbeiteten Künstlerinnen und Schriftsteller zusammen. Die lyrischen Sprüche von Sandra Senn auf den Wänden und im Park gehören zum festen Bestandteil der Sammlung. Nun bringen die kleinen Postkarten von Herta Müller die Poesie in den grossen Ausstellungssaal.

Titelbild: Ausschnitt aus Herta Müller, Ohne Titel, 2020, Papiercollage. Foto: rv
Fotos: Museum Langmatt, Baden

Bis 5. Dezember 2021
«Herta Müller – Der Beamte sagte» im Museum Langmatt in Baden

Publikation mit allen Collagen der Ausstellung: Herta Müller, Der Beamte sagte, Carl Hanser Verlag, München 2021. ISBN 978-3-446-27082-4

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