Ein Kapitän auf See und eine Geliebte an Land durchleben die Höhen und Tiefen der Liebe, im Film «The Story of My Wife» der Regisseurin Ildikó Enyedi, nach dem gleichnamigen Roman von Milán Füst, mit zwei Stars in den Hauptrollen: meisterhaft, zeitlos, universell!

Im Gegensatz zum Buch wird die ganze Geschichte im Film in sieben Kapitel gegliedert, die deutlich machen, dass es Ildikó Enyedi um mehr geht als um eine banale Liebesgeschichte: 1: Über die praktische Lösung eines Problems; 2: Über das Labyrinth des gesellschaftlichen Lebens; 3: Über den Verlust der Kontrolle; 4: Über die Macht der Sinnlichkeit; 5: Über die Jagd nach der Wahrheit; 6: Über das Loslassen – und das Schlusskapitel: 7 Jahre später.

Sechsmal versuche ich, mich mit Ihnen zusammen dem Film zu nähern, auf seine formale Schönheit und seinen menschlichen Wert hinzuweisen, ohne den spannenden Inhalt zu verraten.

1. Annäherung

Kapitän Jakob Störr ist auf Landgang. In einem Café verkündet er, er werde die nächste Frau heiraten, die das Lokal betritt. Es ist Lizzy, eine undurchschaubare Schönheit. Überraschenderweise ist sie mit Störrs Vorschlag einverstanden. Doch sein Glück bleibt nicht lange ungetrübt. Immer wieder ist er wochenlang auf hoher See und fragt sich, was die lebenslustige Lizzy wohl treiben mag. Der Kapitän verirrt sich zunehmend in einem Labyrinth aus Leidenschaft und Eifersucht, ist zwischen inniger Liebe und quälendem Misstrauen hin- und hergerissen.

 Lizzy in Paris

2. Annäherung

Nach ihrem Berlinale-Gewinner «On Body and Soul» inszeniert die vielfach preisgekrönte ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi mit «The Story of My Wife» erneut ein aussergewöhnliches Liebes-Epos. Léa Séydoux verleiht Lizzy den Charme, und an ihrer Seite glänzt Gijs Naber als Jakob Störr. In weiteren Rollen sind die junge Schweizerin Luna Wedler, Louis Garrel und Josef Hader zu sehen. Basierend auf dem gleichnamigen Roman des nobelpreis-nominierten ungarischen Autors Milán Füst zeichnet der Film ein atmosphärisches Bild vom Europa der wilden 1920er-Jahre und erzählt dabei eine so zeitlose wie universelle Geschichte über die Liebe mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Eine tiefgründige, poetische Film-Perle. Ein Film von klassischer Eleganz mit magisch-opulenten Bildern.

Das Paar in Hamburg

3. Annäherung

An Bord seines Frachters hat Kapitän Jakob Störr alles unter Kontrolle. Er weiss auf jede Frage eine Antwort, für jedes Problem eine Lösung. Doch neuerdings liegt ihm das Essen schwer wie ein Stein im Magen auf, obgleich es mit der immer gleichen Sorgfalt von Schiffskoch Habib zubereitet wird. Die Seemannskrankheit wohl? Dem Koch ist dieses Leiden fremd, er sagt, er sei verheiratet, das helfe.

Lizzy, Störr und Dedin

4. Annäherung

Eine Notiz der Regisseurin: Man erhält ein Geschenk. Eine hübsche, elegante kleine Schachtel – fest verschlossen. Sie gehört einem. Man kann sie jeden Tag auf der Anrichte sehen. Aber zu was ist die Schachtel gut, wenn man sie niemals öffnen kann? Erst versucht man es ganz sanft, dann mit einem Messer. Wenn man dann den Hammer auspackt, realisiert man, dass man das Geschenk damit zerstören würde. Ein paar Tage lang tut man dann so, als hätte man das Interesse verloren. Dann muss man sich eingestehen, dass man alles dafür geben würde, wenn man nur eine Sekunde lang einen Blick hineinwerfen könnte. Nach und nach treibt einen diese kleine Schachtel in den Wahnsinn. – Wir haben einen Film gemacht über Liebe, Leidenschaft, Drama, Abenteuer, über die tausend verschiedenen Farben des Lebens. eine schamlos emotionale Geschichte darüber, was es bedeutet, ein Mann zu sein, was es bedeutet eine Frau zu sein, was es bedeutet ein Mensch zu sein. Wenn man Lizzy und Jakob betrachtet, Léa Seydoux und Gijs Naber, dann sieht man keine Gegensätze. Man sieht zwei Menschen mit heller Haut, blondem Haar, hohen Wangenknochen und auffallend ähnlichen, ungewöhnlich geformten Augen. Sie könnten Bruder und Schwester sein. Oder vielleicht der männliche und weibliche Teil ein und derselben Seele.

In der Hafenkneipe

5. Annäherung: aus dem Gespräch des Kapitäns mit einem Psychiater

Warum bekomme ich mein erbärmliches Leben nicht in den Griff?

Nun, wem gelingt das schon?

Anscheinend fast allen.

Haben Sie mal ein Ferkel gesehen? Ein sanftes, kleines Geschöpf.
Es quiekt, wenn Fremde es packen, die es aufessen wollen.
Mehr oder weniger ist das unser Los auf Erden. Ob wir quieken oder nicht, spielt keine Rolle.

Glauben Sie mir, diese Welt ist nichts für uns.

Sie ist nicht für unsere Seele geschaffen. Sie ist nicht ihr Zuhause. Seien Sie also nicht überrascht. Ist Ihnen klar, welches Glück Sie haben?
Sie können einfach aufstehen und das ganze Elend hinter sich lassen.
Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich würde es tun. Ich stelle mir vor, ich bin schon tot.
Aber bevor ich sterbe, schöpfe ich noch ein letzte Mal Kraft und verschwinde.
Ich bekomme eine kurze Galgenfrist. Irgendwo. Ein Fremder an unbekannten Gestaden.
Geht es im Leben nicht genau darum? Eine Galgenfrist nach der anderen zu bekommen?

Ildikó Enyedi, *1955 in Budapest geboren (c) kino.de

6. Annäherung

Antwort der Regisseurin auf die Frage, warum sie den Roman von Milán Füst adaptieren wollte: Eigentlich schreibe ich meine eigenen Drehbücher. Dies ist meine erste Adaption einer literarischen Arbeit. Milán Füst könnte man als Sonderfall in Ungarn und in der Weltliteratur bezeichnen. Oft wird er missverstanden, für die falschen Dinge gelobt. Für mich ist er zunächst einmal ein radikaler Denker, der seine Gedanken in eine üppige, sinnliche Textur voller Humor und Verspieltheit hüllt. Er schrieb dieses zutiefst persönliche Buch während des Zweiten Weltkriegs, als sein Leben sich in Gefahr befand. Es ist eine aufschlussreiche Wahl. Es geht nicht um Eskapismus. Es bedeutet etwas anderes: Wenn bösartige und inakzeptable Kräfte deine Umstände bestimmen, dann machst du einen Schritt zurück und fokussierst das grössere Bild. Von dieser Warte erscheint die elementare Bösartigkeit der Gegenwart, wie sie wirklich ist: mittelmässig. Von hier kann die elementare Schönheit des Lebens, vorübergehend verdeckt von diesen Kräften, zum Vorschein kommen. Diese offenkundige Frivolität, diese Gewagtheit seiner Einstellung, ohne gewagt oder weise sein zu wollen, waren es, was ich charmant fand, als ich den Roman als Teenager zum ersten Mal las. Obwohl es in dem Buch um ein verheiratetes Paar geht, behandelt es die grosse brennende Frage, die zu stellen einem etwas albern vorkommen mag, wenn man älter als 16 oder 17 Jahre ist: Wie sollen wir unser kleines, kurzes Leben auf der Erde verbringen? Wir gehen dieser Frage durch die Augen eines Frachterkapitäns nach, der seine Frau verstehen will, eine kleine französische Frau, und im Grunde durch sie das Leben verstehen will. Ihm werden einige sehr harte Lektionen erteilt. Und er muss lernen, dass er akzeptieren und sich eingestehen muss, dass sich das Leben nicht kontrollieren lässt.

Antwort der Regisseurin auf die Frage, ob sich der Film auch als Parabel auf das Ende des Patriarchats lesen könne: So könnte man es nennen. Obwohl es die Absicht des Films ist, mit dem Publikum auf eine grundsätzlichere, sinnlichere Weise zu kommunizieren als mit den Mitteln einer Parabel. Ich verstehe ihn eher als eine Einladung an die Mitglieder des gestürzten Patriarchats, mit uns zusammen etwas zu errichten, dass für uns alle eine Freude und erfüllend ist. Heute haben wir für den männlichen Teil der Menschheit die grossartige historische Möglichkeit, sich daran zu beteiligen, ein besseres Leben zu führen und ein erfüllteres Lebensmodell umzusetzen.

Diese zwei Aussagen zeigen wohl überzeugend die Klarheit und Tiefe von Ildikó Enyedi. Das ausführliche Interview im Anhang geht noch weiter, nicht nur mit den Erklärungen des kreativen Entstehungsprozesses des Films, sondern auch im Denken dieser klugen und tief menschlichen Frau. Sie gibt Antworten, die man kaum überlesen wird, sondern uns zu eigenen Antworten herausfordern.

Gespräch mit Ildikó Enyedi, der Regisseurin von «The Story of my Wife»$

Titelbild: Lizzy und Jakob Störr

Regie: Ildikó Enyedi, Produktion: 2021, Länge: 169 min, Verleih: Filmcoopi