Abschied für immer

Lange war die Schweiz ein Auswanderungsland. Viele flohen vor der Armut, einige suchten das Abenteuer, andere wurden genötigt. In der Ausstellung «Weg aus der Schweiz» präsentiert das Landesmuseum in Zürich Auswanderungsgeschichten seit 1848.

Migrantinnen und Migranten kommen heute über gefährliche Routen zu uns in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Bis ins frühe 20. Jahrhundert emigrierten Schweizer Männer, Frauen und Familien nach Frankreich, Deutschland, Russland und bis nach Übersee, um der Armut zu entkommen. Erst mit dem aufkommenden Wohlstand sank die Zahl. Die Ausstellung taucht tief in den Alltag der Auswanderer ein.

Deck eines Auswandererschiffes, um 1905. © akg-images / Waldemar Abegg.

Zur Entlastung ihrer Kasse drängten verschiedene Gemeinden ihre Armen nach Übersee. 1855 bezahlte Niederwil, heute Rothrist/AG, 305 Personen die Auswanderung nach Amerika. Mit der Aussicht auf Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten wurden die Leute, auch alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern, geködert. Wo dies nicht reichte, drohte die Gemeinde mit der Polizei. Zwölf Prozent der Dorfbevölkerung hatte Niederwil auf diese Weise weggewiesen. Ein Jahr später konnte die Behörde das Armenhaus schliessen, die einmalige Finanzierung sämtlicher Reisekosten hatte sich gelohnt.

Bericht von Thomas Davatz über die traumatischen Erfahrungen in Brasilien zwischen 1855 und 1857 in der Provinz Sao Paulo. Bild: Wikimedia Commons

Auch die Gemeinde Fanas/GR organisierte 1855 eine grosse Auswanderungsaktion unter der Führung des Lehrers Thomas Davatz. 217 Personen folgten dem verlockenden Angebot einer Agentur in der Zeitschrift Der Kolonist, die einen Vertrag mit lokalen Kaffeeproduzenten in Brasilien anbot. Doch die Arbeitsbedingungen vor Ort waren miserabel, wie Sklaven sollen die Neuankömmlinge behandelt worden sein. Der Bericht von Thomas Davatz inspirierte die Schriftstellerin Eveline Hasler 1985 zum historischen Roman Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen.

Zu den erfolgreichsten Auswanderern gehörte die Familie Guggenheim. Nachdem die Obrigkeit im aargauischen Lengnau dem verwitweten Meyer Guggenheim 1847 die Heirat mit einer Witwe verweigerte – man traute dem jüdischen Paar nicht zu, für die zwölf Kinder aufzukommen – siedelte die ganze Familie nach Amerika aus. In Philadelphia arbeiteten der Vater und die Söhne als Hausierer, handelten mit Kaffee, Gewürzen sowie St. Galler Stickereien. Sie stiegen zu einer der reichsten Familien der USA auf; eine richtige Tellerwäscherkarriere. Spätere Generationen erbauten die weltberühmten Guggenheim Museen in New York, Venedig, Paris, Bilbao, Berlin und Abu Dhabi.

Nach Brasilien auswandernde Schweizer Arbeitslose, um 1930. © Keystone/Photopress-Archiv/Str.

Die Ausstellung zeigt, dass nicht nur Armut, sondern auch Abenteuerlust die Menschen ins Ausland lockt. Der 25-jährige Johann Jakob Locher aus Speicher/AR reiste 1854 nach Australien und schürfte in den Minen nordwestlich von Melbourne Gold. Eindrücklich schreibt er dem Bruder von seinen Erfahrungen zur Zeit des Goldrausches in Victoria. Doch das Goldgraben machte ihn nicht reich, er starb 1870 verarmt in Sunbury.

Mehr Glück hatte die Freiburgerin Adèle d’Affry. Sie liess sich nach dem Tod ihres Mannes in Paris nieder. Die Hoffnung auf freiere Entfaltungsmöglichkeiten zieht bis heute die Menschen über die Landesgrenze. In der französischen Metropole machte sich d’Affry unter dem Pseudonym Marcello einen Namen als Künstler. Ihr Atelier wurde im 19. Jahrhundert zum Treffpunkt der vornehmen Pariser Gesellschaft.

Marcello, Pythia. Die Bronzeskulptur für die Pariser Opéra Garnier verhalf Marcello zu beruflicher Anerkennung. Verkleinerte Replik, um 1880, Musée d’Art et d’Histoire, Fribourg. Foto: rv

Ein beliebtes Auswanderungsland war seit dem 18. Jahrhundert Russland. Ohne den Tessiner Architekten Domenico Trezzini hätte Peter der Grosse St. Petersburg 1703 kaum erbauen können. Die Ausstellung fokussiert im 20. Jahrhundert auf die Situation nach der Oktoberrevolution, als zahlreiche Schweizer Kommunistinnen und Kommunisten dem utopischen Traum in die Sowjetunion folgten. Mit viel Idealismus beteiligten sie sich am Aufbau einer gerechteren Gesellschaft. Fotografien zeigen das landwirtschaftliche Mustergut Nova Lava südöstlich von Moskau, das Fritz Platten 1923 initiiert hatte und wo 68 Schweizerinnen und Schweizer arbeiteten. Aus wirtschaftlichen Gründen und wegen persönlicher Differenzen wurde es 1927 aufgelöst. Viele von ihnen, auch Fritz Platten selbst, fielen später Stalins Säuberungen zum Opfer.

Melkerinnen aus Russland und der Schweiz im landwirtschaftliche Mustergut Nova Lava südöstlich von Moskau, um 1925. Repro, Schweiz. Sozialarchiv. Foto: rv

Der Wunsch, benachteiligte Gesellschaften zu unterstützen, ist bis heute lebendig. Die Schau stellt das Wirken des Zürcher Kinderarztes Beat Richner vor, der von den 1990er-Jahren an mehrere Kinderspitäler in Kambodscha baute, die den Ärmsten eine kostenlose medizinische Versorgung ermöglichten. Auch Bruno Manser wird mit seinem Engagement für die Urbevölkerung in Malaysia vorgestellt; seit 2005 gilt er amtlich als verschollen. Seine Tagebücher mit Skizzen von Menschen und Pflanzen im Urwald zeugen von der Schönheit und Strahlkraft dieser fernen Welt, die er retten wollte.

In der Fremde suchten die Ausgewanderten immer wieder die Nähe zueinander und gründeten Schweizer Vereine. Sei es, um sich bei den neuen Aufgaben zu unterstützen, Erfahrungen auszutauschen oder sich im Heimweh nahe zu sein. Ich selbst habe einige Jahre in Deutschland gelebt. Sowohl in Nürnberg als auch in Bremen gab es einen im 19. Jahrhundert gegründeten Schweizer Verein, wo mir alte Menschen stolz den Schweizerpass zeigten. Sie sprachen kein Schweizerdeutsch mehr, waren aber stolz auf ihre Herkunft, auf den Gross- oder Urgrossvater aus dem Appenzellischen oder sonst woher. Und natürlich feiern die Vereine bis heute jedes Jahr den 1. August.

Chalet Suisse in Léopoldville, Kongo, 1933. © Schweiz. Bundesarchiv, Bern.

Freiwillig ein neues Leben im Ausland beginnen, ist eine grosse Herausforderung. Das zeigt auch die DOK-Sendung Auf und davon, die bereits in der 13. Staffel im Schweizer Fernsehen zu sehen ist. Bequem vom Sofa aus kann man zuschauen, was Aussteigerinnen und Aussteiger in der neuen Heimat erwartet, was sie erleben und oft erleiden. Jedes Jahr wagen rund 30’000 diesen Schritt, heute leben etwa 800’000 Schweizerinnen und Schweizer in der sogenannten Fünften Schweiz.

Titelbild: Überseekoffer mit Büchern von Auswanderern nach Australien, um 1900. Foto: rv

Bis 24. April 2022
«Weg aus der Schweiz – Auswanderungsgeschichten seit 1848» im Landesmuseum Zürich, mehr Infos hier.

s.a. Peter Schibli: Auswanderungsgeschichte als Lebensaufgabe

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