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Literarische Skizzen

«Charaktere in meiner Nähe». So betitelt Hanns-Josef Ortheil seine fünfzig literarischen Miniaturen über liebenswerte und skurrile Mitmenschen.

Ist Ihnen auch schon die Ausredenvirtuosin begegnet? Sie hat in ihrem Kopf scheinbar eine ganze Auswahl an Ausreden parat, so dass sie stets in ihrem Sinne passend reagieren kann. Sie kann sich nie ausdauernd auf ein Projekt einlassen, möchte zuweilen Verabredungen nicht einhalten, kann sich nicht entschliessen, einen Kauf zu tätigen, oder einfach: sie kann sich nicht festlegen und findet dafür stets eine Ausrede. Darin ist sie virtuos.

Im Spätsommer trifft man am Waldrand den Brombeerpflücker, vielleicht auch auf Feldwegen in ländlichen Gegenden, wo Brombeeren, Himbeeren, Mirabellen oder Heidelbeeren wild wachsen. Der Brombeerpflücker, erzählt unser Autor, spaziert mit einer uralten Milchkanne umher, wie wir sie aus Kindertagen kennen. Ortheil beschreibt den Mann genau und liebevoll, wie dieser alles pflückt, was er findet, ganz konzentriert, so dass er andere Spaziergänger kaum grüssen kann; wie er dann heimgeht, einen Teil der Beeren gleich verzehrt, die anderen einkocht und später im Jahr geniesst – ein Schleckmaul beschreibt der Autor, aber zugleich einen Kauz.

Mit Worten zeichnen

Mit Humor, mit spitzer Feder, wenn der Autor sich für die Karikatur entscheidet, entstehen so kleine Portraits, skizzenhaft, aber dennoch präzise. Die Lesende dachte an einen Maler, der, bevor er ein grosses Gemälde beginnt, sein Skizzenbuch füllt mit den Personen und Szenen, die er malen will. Das gleiche tut Ortheil mit Worten – geistige Fingerübungen.

Die Titel verraten schon, dass häufig Ironie einfliesst: Der Selbstlober, Die Monologistin, Der Topoptimierte oder Das Aufräumkind, das sich an der ordnungsliebenden Japanerin orientiert. Das Aufräumkind ist vielleicht gar kein Kind mehr, aber völlig gefangen in seiner Sucht nach Übersicht. Ortheil hat sogar einen Berufsvorschlag für dieses «Kind»: Es könnte Finanz- oder Haushaltspolitikerin werden. Daneben gibt es Titel wie Die Auslöfflerin, Der Stoiker, Die Italiensüchtige, Der Internet-Rezensent – der könnte uns vielleicht interessieren.

Es ist ein Buch für Menschen mit Lebenserfahrung, die sich nicht so leicht in Selbstzweifel verlieren, sich auch nicht überschätzen. – Denn ein paar Charakterzüge, die der Autor uns hier präsentiert, sind zwar etwas überzeichnet, aber wir kennen sie vielleicht von uns selbst. Gibt es liebevolle Satire? Diese Miniaturen sind es.

Dem Mitmenschen den Spiegel vorhalten

Aus einem weiteren Grund empfiehlt sich das Buch eher für ältere Leserinnen und Leser. Denn wer weiss heute noch etwas von den alten Griechen? In einem ausführlichen Vorwort Einladung zur Lektüre erfahren wir von Hanns-Josef Ortheil, dass ihm ein Philosoph und Gelehrter der Antike den Anstoss gab: Theophrastos von Eresos (um 371 – um 287 vor Chr.), «einer der begabtesten und vielseitigsten Schüler des griechischen Philosophen Aristoteles».

Der Autor erklärt uns, wie hilfreich ihm Theophrasts Charakterstudien waren: «Schon vor vielen Jahren erstaunte ich während meiner Lektüre über diese scharfen Blicke einer präzisen Menschenkenntnis. Vergleichbares kannte ich lange nicht. Die Lektüre verleitete einen dazu, Personen in der eigenen Umgebung in ähnlicher Form genauer zu betrachten.»

Wie Ortheil sich inspirieren lässt, zeigt er selbst an einem Beispiel in einer modernen Theophrast-Übersetzung Der Ungehobelte, dem er seine eigene Charakteristik des Ungehobelten gegenüberstellt. Da sind zunächst die unterschiedlichen Epochen zu beachten: Theophrast beschreibt, wie der ungehobelte Mensch sich zwischen Ochsen, Esel oder Ziegenbock bewegt, dass er zu grosse Schuhe trägt, wenn er zur Volksversammlung geht; und dass er sich wohl nicht immer so benimmt, wie es von einem griechischen Bürger erwartet wurde.

Einen Griechen ins 21. Jahrhundert verpflanzen

Der Ungehobelte bei Hanns-Josef Ortheil im 21. Jahrhundert besitzt einen grossen Wagen, den er in der Tiefgarage auf zwei Plätze zugleich stellt, er verpestet die Luft mit seiner Zigarre, er will immer der Chef sein, spricht bei Tisch ununterbrochen und aufdringlich und benötigt bei Regen mit seinem Schirm doppelt so viel Platz wie die anderen. Der Ungehobelte ist offensichtlich kein sympathischer Mensch. Weder bei Theophrast noch bei Ortheil. Aber beide beschreiben ihn nicht mit herabsetzenden Worten – sein Charakter wird durch sein Verhalten skizziert.

Das Schreiben hat Hanns-Josef Ortheil, 1951 in Köln geboren, seit früher Kindheit geübt. In einem seiner Bücher erzählt er, wie er erst Lesen und Schreiben lernte, bevor er aktiv zu sprechen begann. Das hatte mit der belastenden Nachkriegsgeschichte seiner Familie zu tun. Seine älteren Brüder starben in den kargen Jahren nach 1945 an Infektionskrankheiten. Der kleine Hanns-Josef blieb das einzige Kind. Seine Mutter verlor die Sprache und konnte nur durchs Klavierspielen ihr Leid ertragen. – Mit der Mutter lernte der Junge ebenfalls Klavierspielen, so gut, dass er plante, Pianist zu werden, wenn ihn nicht eine Entzündung im Arm daran gehindert hätte. So blieb das Schreiben, das er – wie das Sprechen – mit seinem Vater geübt hatte. Als Schriftsteller hat er in Laufe der Jahrzehnte eine zahlreiche Leserschaft für sich gewonnen und sich als Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus ebenfalls einen guten Namen geschaffen.

Köln mit seinen vielen schönen alten Kirchen gilt vor allem bei seinen Bürgerinnen und Bürgern selbst als «das Rom des Nordens». Wer die Stadt besucht, merkt schnell, wie offen und heiter, wie gesellig und gesprächig die Menschen dort sind. Obwohl Ortheil nicht mehr in Köln lebt, scheint mir, dass er viel von diesem Charakter in sich trägt. Seine Miniaturen offenbaren diesen wohlwollenden Blick, der vor den Schwächen seiner Mitmenschen nicht die Augen verschliesst und sie doch nicht verdammt.

Hanns-Josef Ortheil: Charaktere in meiner Nähe. 2022; Reclam Verlag. 128 Seiten
ISBN: 978-3-15-011421-6

Titelbild:  Charakterköpfe  © Petra Dirscherl  / pixelio.de

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