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Zeitenwende! Zeiten Ende?

Harald Welzers neues Buch mit dem Titel «Zeiten Ende» trägt den Untertitel «Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr.» Was ist das Problem? Gibt es Lösungsansätze? Hat Welzer Lösungsvorschläge?

Der Titel «Zeiten Ende» ist eine Anspielung auf eine Aussage des deutschen Bundeskanzlers Scholz, der nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine mit dem Begriff «Zeitenwende» eine neue historische Phase ankündigte. Der Slogan «Wandel durch Handel» wirkt hohl, wenn Gaspipelines gesprengt werden und der Angriffskrieg Russlands zu einer neuen Aufrüstungsspirale führt. «Kriegsschiffe statt Kreuzfahrtschiffe: Ist das die Zeitenwende?» (Zitat aus einem Interview, S. 28).

Multikrisen zeigen sich etwa in den globalen Extremwetterverhältnissen, Ernährungsproblemen und Migrationsströmen. Sogar in reichen Ländern fühlt sich der Mittelstand verunsichert, der Wohlstand scheint gefährdet.

Nach Welzer hängen die Krisen zusammen. «Wenn wir keinen Frieden mit der Natur schliessen, wird der Weltfrieden eine unerreichbare Utopie.» (S.38). Damit greift Welzer die «Poesie der Wirtschaftswissenschaften» (S. 127) an, wenn von der «Unbegrenztheit der menschlichen Bedürfnisse» gefaselt, einer «Immerwachstumswirtschaft» das Wort geredet und dabei die Übernutzung des Planeten in Kauf genommen wird, «was etwa die spektakulären Aussterberaten der Arten bezeugen oder auch die planmässige Zerstörung von Böden, Wäldern und Gewässern. Ausgerechnet die einzige Ressource, die nicht knapp ist, wächst immer weiter, weil sie so erfolgreich von den Ökonomen bewirtschaftet wird: Das ist die Dummheit.» (S. 128). Deswegen werde unser Zeitalter, wenn es in Zukunft noch eine Geschichtsschreibung geben sollte, als «Age of Stupid» bezeichnet, weil noch nie wider besseres Wissen so viel falsch gemacht wird.

Nicht nur Ökonomen bekommen ihr Fett ab. Auch die deutsche Ampelregierung und frühere Regierungen werden mit herber Kritik eingedeckt. Politiken der «Dekarbonisierung» und der Nachhaltigkeit werden als «Mythen» bezeichnet. Mit Sorge beobachtet Welzer den Aufstieg rechter Parteien in Deutschland (AFD) und anderswo. Der Rechtspopulismus sei darauf zurückzuführen, «dass man sich innerhalb des etablierten Parteienspektrums mangels eigener Substanz angewöhnt hat, Punktgewinne auf Kosten der anderen zu machen. Das ist toxische Politik, und die erzeugt genau jene Kultur der Destruktivität, die für Demokratiefeinde die perfekte Entwicklungsumgebung ist.» (S. 283)

Die Politik sei ohne Leitbild. Grundsatzprogramme und Regierungserklärungen seien praktisch wenig wirksam. Eine freiheitliche Politik für das 21. Jahrhundert müsse beinhalten, «dass die Bedingungen für die Aufrechterhaltung und Fortsetzung der Freiheit von einer intakten Biosphäre und einem lebensermöglichendem Klimasystem abhängen.» (S.197). Das neoliberale System habe zu einer Vereinzelung und zu einer Heimatlosigkeit geführt. Eine konsumorientierte Idee von Freiheit habe eine gemeinwohlorientierte Idee der Freiheit abgelöst. Deswegen plädiert Wenzel für Orte des Zusammenhalts, beispielsweise die Schule als Ort der Vergemeinschaftung. Dabei zitiert er Willy Brandt: «Die Schule der Nation ist die Schule».  Eine demokratische Gesellschaft sei eine lernende Gesellschaft. Auch mit Freiwilligenarbeit und nicht kommerziellen Orten, wo man sich wohlfühlen kann (z.B. Gemüsegärten, schöne Plätze, Begegnungsorte), könne ein Stück gemeinsamer Heimat wiedergefunden werden.

Das wirkt nostalgisch und Welzer muss vor den grossen ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen genauso kapitulieren wie politische Schönredner auf Stimmenfang. Trotzdem lohnt sich die Lektüre, da drastisch das Unvermögen nationaler Politiken aufgezeigt wird, wenn es darum geht, globale Probleme zu lösen, die lokal verheerende Folgen haben. Globale Friedenspolitik, eine gerechte globale Wirtschaftspolitik unter Berücksichtigung der ökologischen Grenzen unseres Planeten sind noch nicht in Sicht. Umso mehr wird es Anstrengungen der globalen Gegenwartsgesellschaft brauchen, damit unser Zeitalter nicht als Zeitalter der Dummen in die Geschichte eingehen wird.

Harald Welzer (geb. 1958) ist deutscher Sozialpsychologe und Publizist. Er ist Mitbegründer und Direktor von FUTURZWEI, einer Stiftung zur Förderung alternativer Lebensstile und Wirtschaftsformen. Von 2001 – 2012 war er Professor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke. Seither lehrt er an verschiedenen Universitäten und ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte und Akademien.

Buch: Harald Welzer. Zeiten Ende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr.  Frankfurt a. M. 2023. ISBN: 978-3-10-397581-9

Titelbild: Barbara Bleisch interviewt Harald Welzer. Screenshot von bs aus der SRF-Sternstunde Philosophie vom 17. 10. 2021 unter https://www.youtube.com/watch?v=tDU7ykd4Ols

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