StartseiteMagazinGesellschaftSodom, Gomorra und der Granatapfelbaum

Sodom, Gomorra und der Granatapfelbaum

Mit dem Theaterstück «Das Erdbeben in Chili» schreiben Bühnen Bern die gleichnamige kleistsche Novelle in einer durch die Hausautorin erweiterten Version fort. Nicht nur nach einem Erdbeben, auch nach globalen Epidemien, mörderischen Kriegen und gigantischen Umweltkatastrophen gibt es immer Chancen auf eine Neuordnung der Gesellschaft. Fragt sich nur, was die Überlebenden aus dem Inferno gelernt haben.

Sonntagmorgen im Berner Münster: Der Pfarrer spricht über Sodom und Gomorra. Laut Bibel hat Gott die beiden Städte im Jahr 1650 vor Christi Geburt wegen der Sündhaftigkeit ihrer Bewohnenden zerstört. Heute schreiben wir das Jahr 2024. Der Pfarrer fragt: Wer hat das Böse erschaffen? Gott, die Menschen, oder kommt es aus der Natur? Wer ist schuld an den Kriegen, Naturkatastrophen, am Elend auf dieser Welt? Ich komme ins Grübeln.

Sonntagabend in den Vidmarhallen. Auf dem Programm von Bühnen Bern steht ein Klassiker. Das Stück «Das Erdbeben in Chili» knüpft – völlig unabsichtlich – an die Predigt vom Morgen an und lässt mich weiter grübeln: Wie im Münster sind auch bei Heinrich von Kleist die Antworten auf die Theodizee-Frage nicht eindeutig: Es fehlen Hinweise auf eine göttliche Fügung. Der Kern der Novelle wird dahingehend interpretiert, dass aus zerstörten Strukturen, aus dem grossen Elend, aus dem Bösen Neues entstehen kann, eine Vision mit Gerechtigkeit, Freiheit und Glück.

Liebende im 17. Jahrhundert

Der bürgerliche Jeronimo (Kilian Land, vorne) wird von den Adeligen mit Füssen getreten und vom Erdbeben zu Boden geworfen.

Doch zuerst zur Geschichte: Im Jahr 1647 kam es in Santiago de Chile (in Kleists Novelle: «St.Jago») zu einem grossen Erdbeben. Genau in diesem Moment versucht sich der Spanier Jeronimo, ein Vertreter aus der Unterschicht, an einem Pfeiler des Gefängnisses zu erhängen, während sich seine Geliebte, die adelige Josephe, auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung befindet. Ein Jahr zuvor hatten sich der Hauslehrer (im Stück auch Hausdiener) und die Adelige ineinander verliebt und ein Kind gezeugt.

Die Schwangere wird von ihrer Familie in ein Kloster verbannt, bis sie auf den Stufen der Kathedrale ein uneheliches Kind gebärt. Das ist dann auch für die Kirche zu viel: Die junge Mutter wird zum Tod verurteilt, ihr bürgerlicher Hauslehrer ins Gefängnis gesteckt. Im allgemeinen Erdbebenchaos gelingt sowohl Jeronimo als auch Josephe unabhängig voneinander die Flucht.

Sprung in die Gegenwart

Die beiden Liebenden treffen sich in einem Tal wieder und lassen sich erleichtert «auf einem Lager aus Moos und Laub unter einem Granatapfelbaum» nieder, als handle es sich um das Paradies. In dem Tal gibt es keine gesellschaftlichen Schranken: Alle Menschen sind gleich und helfen einander.

Wiedersehen unter dem roten Lichtring, der einen Granatapfelbaum symbolisiert.

Im zweiten Teil der Berner Inszenierung, im Paradies, werden die Zuschauenden aus dem 17. Jahrhundert in die Gegenwart katapultiert. Aus dem ungleichen Liebespaar Josephe (Yohanna Schwertfeger) und Jeronimo (Kilian Land) werden «Lebensabschnittspartner». Donna Elvire (Genet Zegay) und Don Fernando (Lucia Kotikova) repräsentieren das Gute, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Gleichheit, Freiheit, Liebe und Glück. Irdisches Gut, Geld wird umverteilt. Frau und Mann können sich privat wie beruflich gleichberechtigt entfalten. Kriege, Gewalt, Einsamkeit gibt es nicht, dafür genügend Kita-Gutscheine und Veganismus für alle.

Doch der Ort ist trügerisch. Schon bald wird aus Solidarität Diffamierung, aus Selbstlosigkeit Rache. Menschen wären nicht das, was sie sind: unvollkommene Wesen mit unberechenbaren Reaktionen und heimtückischen Gefühlen. Jeronimo und Josephe kehren mit ihrem Kind aus dem Paradies in die Stadt, zu den anderen Menschen, zurück, die gerade eine Messe feiern. Dort werden die einst sündigen und nun geläuterten Liebenden von der Menge gelyncht. Eine Chance auf Vergebung erhalten sie nicht. Die kirchliche Ordnung, Recht und Moral, holen sie zurück in die Realität. Wie Adam und Eva nach dem Ungehorsam mit dem verbotenen Apfel.

Soziale Normen und Muster hinterfragt

Regisseur Daniel Kunze, der erstmals in Bern inszeniert, nimmt mit Kleists Menschengemälde gesellschaftliche sowie soziale Normen und Muster unter die Lupe und stellt die Frage, ob in jeder Katastrophe nicht auch die Chance steckt, die Gesellschaft neu zu denken. Bühnen Bern-Hausautorin Anaïs Clerc, welche die kleistsche Vorlage mit eignen Texten, Gedanken, Interpretationen erweitert hat, schafft Visionen und Utopien für eine gerechtere Welt, ohne das Böse, ohne Kriege und Katastrophen. Die Traumwelt wird von den Spielenden harmonisch sowie äusserst einfühlsam umgesetzt und nahtlos mit Kleists Vorlage in Verbindung gebracht.

Erste Ungerechtigkeiten auch im paradiesischen Tal: Krone sowie rote Clownnase als Kritik am Zeitgeist? (Lucia Kotikova, links, Genet Zegay rechts).

Irgendwie erinnert mich das Ende der visionären Neuinterpretation des kleistschen Klassikers auch an die Russische Revolution: Nach dem erfolgreichen Sturz des menschenverachtenden Zaren-Regimes und anfänglicher Euphorie frisst die Revolution ihre eigenen Kinder. Bis heute…. Regelmässig verpassen es die Überlebenden, aus den Katastrophen und Kriegen zu lernen.

Zurück zum Einstieg: Auf die unbeantworteten Fragen des Münsterpfarrers gibt es möglicherweise theologische, aber keine säkularen Antworten. Höchstens, dass man rhetorisch fragen könnte: Warum sind Adam und Eva, Jeronimo und Josephe, wir nicht im Paradies geblieben?

Titelbild: Vor dem Erdbeben: Die Adelsfamilie des Don Asteron (rechts im Bild Stéphane Maeder) übt sich in Dekadenz und Standesdünkel.  Alle Fotos: Annette Boutellier.

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Bühnen Bern

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