StartseiteMagazinKulturSolothurn: Geschichten zum Überleben

Solothurn: Geschichten zum Überleben

Wie es der Brauch ist, bestehen die Solothurner Literaturtage aus der Werkschau, einem Querschnitt durch die literarische Produktion von hierzulande lebenden Literatinnen und Autoren sowie einem Rahmenprogramm.

Das Wetter macht wieder einmal mit, das Landhaus – wichtigster Veranstaltungsort – fällt dagegen aus, weil es massiv renoviert werden muss. Aber vor und im Restaurant Kreuz, dem Nukleus der ersten Literaturtage, trifft sich nach wie vor alles, was literarische Bücher schreibt, liest und liebt. Die 47. Solothurner Literaturtage haben also begonnen, für ein langes Wochenende ist die Kleinstadt an der Aare mit der grossen Vergangenheit die Metropole der Literatur in der Schweiz. Wie seit je präsentieren die Literaturtage die Jahresproduktion von Autorinnen und Schriftstellern, die in der Schweiz leben oder einen Schweizer Pass haben, angereichert mit Übersetzerinnen und Übersetzern sowie Gästen aus dem Ausland. Das alles schön verpackt in rund 80 Veranstaltungen mit und ohne Musik, beliebt vor allem und noch immer die Lesungen.

Alle wollen ins Cinema Palace zu einer Lesung, am Ende ist Fullhouse

Schon am Freitag Vormittag waren diese Dichterveranstaltungen gut besucht, oder auch besetzt bis auf den letzten Klappsitz. Beispielsweise im Kino Palace, wo Esther Spinner ihr Buch Mit Hund und Wort vorstellte. Den vorbereiteten ersten Satz, sie werde «eine der unterschätztesten Autorinnen der Schweiz» begrüssen, musste Moderatorin Sieglinde Geisel gleich zurücknehmen. Dennoch war er nicht falsch. Esther Spinner ist in dem Geschäft, was gemeinhin als Literaturbetrieb bezeichnet wird, trotz mehrerer von der Kritik geschätzten Bücher, die sie seit den frühen 1980er Jahren veröffentlicht hat, nicht angekommen.

Autorin Esther Spinner (rechts) und Moderatorin Sieglinde Geisel

Was sie zwischen den Gesprächsteilen vorliest, sind Texte, die wie Alltagssprache daherkommen, jedoch das vorläufige, weil gedruckte Ende eines Gestaltungsprozesses sind, hinter dem viel Spracharbeit steckt. Nebenbei erfährt das Publikum, wie Esther Spinner auf den Hund gekommen ist und welche Rolle die Hunde fürs Schreiben spielen. Ganz locker bringt sie es auf den Punkt: Schreiben brauche Struktur und mit einem Hund müsse sie viermal täglich an die frische Luft. Zudem lerne sie von ihren Hunden Gelassenheit. Ihr Buch nennt sie «Memoir», weil es keine Autobiographie sei, weil es auch keine Chronologie habe, aber aus ihrer Lebenswirklichkeit entstanden sei.

Im bequemen Kinosessel ist zuhören wunderbar, und erst noch Hundefotos

Nebst den Hunden wird auch die Frauenbewegung thematisiert, denn in der Literatur wurden Autorinnen gern als schreibende Hausfrauen abqualifiziert. Dabei sieht sie «hausfrauliches Tun», wenn sie einer katholischen Messe beiwohnt, und beobachtet, welche Handgriffe Priester und Messdiener ausführen. Spannend, wie Moderatorin Geisel die Autorin zu präzisen Aussagen über den Weg von der Beobachtung bis zur Formulierung bringt. So erfahren auch Laien, was literarisches Schreiben sein könnte.

Oder um es mit dem grossen Abwesenden bei diesen 47. Literaturtagen zu sagen: «Ich glaube, der Sinn der Literatur liegt nicht darin, dass Inhalte vermittelt werden, sondern darin, dass das Erzählen aufrecht erhalten wird. Weil die Menschen Geschichten brauchen, um überleben zu können, nur das Leben, das man sich selbst erzählen kann, ist ein Sinnvolles.» Peter Bichsel, einer der Gründer der Literaturtage in Solothurn, täppelt nicht mehr durch die Gassen, sitzt nicht mehr im Kreuz, aber seine Geschichten und seine Poetik leben weiter und weit über die Grenzen Solothurns hinaus.

Auch ein neuer Veranstaltungsort: das Kunstmuseum: Ruth Erat erklärt, was es «mit Näglein besteckt» auf sich hat.

Mit Pierre, einer Figur, die keine Geschichten braucht und daher mit dem Leben nicht gut zurechtkommt, setzt sich Ruth Erat in Wintersee auseinander, wo sie die Seegfrörni von 1963 samt den Geschichten ihres Vaters erinnert. Dieser Pierre fordert Wahrhaftigkeit von seiner Kinderfreundin und späteren Geliebten Julia, also keine Lügen, was zu heftigen Auseinandersetzungen führt. Das sei lebensfeindlich und geschichtenfeindlich, analysiert Ruth Erat. Wintersee ist eine komplex strukturierte Erzählung, die Kontrolle und Freiheit, Liebe und Verlust thematisiert. Auch hier kann Bichsel zitiert werden: «Ich liebe dich heisst ich will nicht, dass du stirbst.»

Das Heidi-Buch von Tabea Steiner ist nach der Lesung ein Renner: Signierstunde

Auch bei der dritten Veranstaltung, die ich besucht habe, wird kein Roman von A bis Z erzählt. Tabea Steiner hat Essays unter dem Titel Heidi kann brauchen was sie gelernt hat – frei nach Spyri aber mit einem wichtigen Worttausch versammelt. Auch bei ihr geht es ums Beobachten und Gestalten in einer je passenden Sprache. Essays sind hier nicht philosophische Abhandlungen, sondern – wörtlich – Versuche, die persönliche Anekdote in die adäquate Form zu bringen, denn «der Stoff sucht seine Form», sagt Tabea Steiner. Auch sie ist als schreibende Autorin ein gebranntes Kind: Ein Wikipedia-Artikel über sie wurde einst sofort wieder gelöscht, weil sie die Relevanzkriterien nicht erfülle, wie begründet wurde.

Viele neue Lese-Säle, weil das Landhaus im Umbau ist, nur das Kreuz bleibt.

Nicht berichtet haben wir über die Schreibenden, die Kriegstraumata zu verarbeiten haben, auch ihnen sind in Solothurn mehrere Veranstaltungen gewidmet. Einige gehen davon aus, dass sie nie mehr in ihrer Muttersprache Bücher publizieren können und sich daher die Sprache ihrer neuen Lebenswelt aneignen müssen.

Jedes Jahr präsentieren die Solothurner Literaturtage Texte, die von Immigranten und Flüchtlingen verfasst worden sind. Nicht berichtet haben wir hier auch über die Literaturen aus den anderen drei Sprachregionen. Nur bei den Solothurner Literaturtagen ist es möglich, Literaten und Autorinnen mit einer anderen Muttersprache zu erleben. Nicht berichtet haben wir auch von den verschiedenen Preisverleihungen, wobei die letzte und hier in Solothurn wichtigste am Sonntag erfolgt: Der Solothurner Literaturpreis geht an Alain Claude Sulzer.

Aber es ist ja noch Zeit zum Besuch der Literaturtage. Solothurn ist nicht ab der Welt, im Gegenteil, alle halbe Stunden hält ein Schnellzug aus Ost oder West. Für Zuhausegebliebene gibt es mehrere Veranstaltungen als Videostream. Und das Festival endet erst am Sonntag Nachmittag. Dann wird der grosse Schriftsteller mit den vielen Geschichten gewürdigt: Peter Bichsel in Memoriam heisst die Veranstaltung.

Titelbild: Lesungen bei der Treppe vor der St. Ursen-Kathedrale: Die Zuhörerinnen verlassen die sonnig erhitzten Stufen mit bester Aussicht scharenweise und drängeln sich im spärlichen Schatten.
Fotos: Eva Caflisch
Hier geht es zum Programm der Solothurner Literaturtage (noch bis Sonntag, 1. Juni)

 

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