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Das Spiel von Anpassung und Widerstand

Theater Gurten Bern: „Die Nashörner“: Eugene Ionescos zeitloses Lehrstück zeitnah auf Berndeutsch.

Man stelle sich vor, dass Frauen und Männern auf einmal eine Warze auf der Wange wachsen würde! Etwa so wie bei Jeremias Gotthelf: „Die Schwarze Spinne“. Es befällt offenbar diejenigen, die sich von den Suggestionen der Werbung, von der Psychologie der Propaganda, von den Tricks und Lügen der Machtbesessenen und vom Wiegenlied des Konsums und des Genusses verführen lassen und als höchstes ihrer möglichen Ziele so sein möchten, wie alle andern oder mindestens die meisten sind.

Die Warzen wachsen als Beule über der Nase, werden zum Horn – oder gleich zu einem Doppelhorn. (Damit man sich streiten kann: afrikanisch oder indisch?) Bald beginnen Betroffene zu schnauben, ihre Haut verfärbt, verdickt und verrunzelt sich – und schon traben sie polternd als Nashorn davon und verunsichern Markt und Strassen. So wird eine Art von Pervertierung der Menschlichkeit sicht- und hörbar. Geniale Idee, mit Elementen des Schwarzen Humors und des Absurden angereichert.

Deshalb wurde, entgegen den Erklärungen von Ionesco, sein Stück immer wieder im Lauf der Zeit als „Absurdes Theater“ bezeichnet. Dabei ist es ein grotesk konstruiertes Lehrstück über die Verwandlung des Menschen in ein Unwesen, das fern jeder Humanität seinen eigennützigen Zielen nachjagt. Und weil, wie anfangs dargelegt, alle denselben Werten (oder Unwerten) nachstreben, wird selbst aus Egozentrikern eine bedrohliche Herde, in welche sich manche sogar, von Mitleid und Verständnis bewegt, freiwillig eingliedern.

Gestützt auf das Werk des französischen Dramatikers von rumänischer Herkunft, Eugène Ionesco (1912-1994), entfernt sich Livia Anne Richard ein starkes Stück weit vom Absurden und betont sowohl mit dem Text als auch mit der gesamten szenischen Sprache auf der Gurten-Freilichtbühne die Bedeutung des Kampfs um Liebe und Menschlichkeit. Ihre gegenüber dem Original gestraffte und der zeitgemässen Botschaft angepasste Fassung verwendet den berndeutschen Dialekt (wie immer bei ihr) sachlich, konkret und ohne verbrämenden Kolorit, setzt ihn nicht als betuliches oder gar versöhnliches Mittel des Beschwichtigens ein. Konsequent spielt sie als Regisseurin die Konflikte der Beteiligten aus, die Konflikte und den Kampf zwischen „Tun, wie alle sollten“ und „Tun, was recht ist“.

Fredi Stettler als Behringer, der Antiheld.
links zu Beginn, rechts am Schluss. Foto © Hannes Zaugg-Graf

Gegen die Entmenschlichung wehrt sich schon von Anfang an ausgerechnet einer, der das Zeug zum Antihelden hat: Behringer, der Unzuverlässige, Unpünktliche, dem Alkohol zu sehr Zugetane. Gescholten wird er von seinem selbstgerechten Freund, verachtet, in die Ecken des Gesellschaftslebens gestellt. Dabei beweist er immer wieder menschliche Qualitäten: Altruismus, Freundschaft, Liebe… Doch am Schluss, wenn auch die ihm am nächsten Stehenden doch mit der Herde traben – am Schluss vereinsamt, in die Enge getrieben, als einziger Übriggebliebener anscheinend, wehrt er sich vehement mit einer Geste grossen, theatralischen Protestes.

Das Ensemble auf der Bühne (von links): Urs Schnegg (Händler), Kathrin Schnegg (Händlerin), Jelena Roth (Wirtin), Markus Maria Enggist (Hans), Hanspeter Riesen (Älterer Herr), Onorio Grosso (Kellner), Fredi Stettler (Behringer). Bild: © Andreas von Gunten
Nicht auf dem Bild:
Corinne Thalmann (Daisy), Adam Guerriero (Stech), Marianne Tschirren (Frau Ochs), Hanny Gerber (Frau Wisser), Claude Fankhauser (Logiker), Kurt Rutishauser (Schmetterling).

Das ganze Ensemble auf der Bühne ist dabei keineswegs nur Staffage für dieses Spiel um Anpassung und Widerstand. Da ist Frau Ochs (Marianne Tschirren), die nicht nur das erste Opfer des Geschehens begraben muss, ihre zertrampelte Katze, sondern danach auch gleich ihren Mann als ersten in ein Nashorn Verwandelten zu beklagen hat. Ein älterer Herr (Hanspeter Riesen) bemüht sich als heimlicher Verehrer erfolglos um sie, Händlerin und Händler (Kathrin und Urs Schnegg) beklagen, dass man nicht bei ihnen einkauft, Wirtin und Kellner (Jelena Roth und Onorio Grosso) warten auf, und Herr Schmetterling, der grosse Chef (Kurt Rutishauser) macht allen klar, dass die Störung nur vorübergehend sein darf und das Geschäft weiter gehen muss. Von differenzierterer Funktion sind die zum Teil abwegigen und scheinlogischen Spitzfindigkeiten des Logikers (Claude Fankhauser) und die zum geifernden Selbstzweck emporstilisierten Ausbrüche zwischen umfassend generellerer Anti-Gegnerschaft und spezifisch uneinsichtiger Zweiflerei, lauthals herausgeschrien von Frau Wisser (Hanny Gerber). Im engeren Kreis des dramatischen Geschehen stehen neben Behringer seine anfangs heimlich, schliesslich mit so besorgter wie ungestümer Leidenschaft geliebte Kollegin Daisy (Corinne Thalmann), der etwas fies herumschleichende Nebenbuhler Stech (Adam Guerriero) und, als direkter Gegenspieler Behringers auf Augenhöhe, der rechtschaffene, überkorrekte, intolerante Freund Hans. Markus Maria Enggist entfesselt vor allem anfangs alle Register von Stimme, Gestik und szenischer Bewegung, so dass es als reines Wunder erscheint, mit welcher Konstanz Behringer, der sich davon offensichtlich nicht einschüchtern lässt, ihm bis zuletzt die Treue hält.

Und dieses „zuletzt“ ist das Meisterstück von Markus Maria Enggist. Im Dialog mit Behringer spielt er seine Verwandlung. Kopfschmerzen…, eine Beule wächst…, der Atem wird schwerer, geht zum Schnauben über. Behringer schildert, wie sich bei Hans die Haut verändert – die Worte von Hans verwandeln sich langsam in Grunzen…

Bei den Proben (von links): Urs Schnegg, Claude Fankhauser, Markus Maria Enggist, Corinne Thalmann, Jelena Roth, Kathrin Schnegg, Onorio Grosso, Hanspeter Riesen;
vorne: Marianne Tschirren. Bild © Hannes Zaugg-Graf

Schon lange vor der Premiere stellte sich die Frage, wie man ein Nashorn – zwei, drei, viele Nashörner – „vorbei trampeln“ (Ionescos Text) lassen kann, wenn es sie doch nicht wirklich gibt. Verblüffenderweise kann man es, mit allen szenischen Mitteln, die Livia Anne Richard ihr Ensemble entfesseln lässt und wovon die Verwandlung von Hans nur ein Beispiel ist. Den grössten Anteil am illusionären Geschehen im nichtwirklichen Teil des grossen Spielraums (Bühne: Fredi Stettler) hat jedoch die Musik; besser gesagt, haben die Töne und Geräusche, die Hank Shizzoe komponiert hat und zusammen mit dem Schlagzeuger Simon Baumann zum oft recht beängstigenden Klingen bringt. Das Stampfen, Schnauben, Grunzen und Brüllen der Nashörner – an der Menschlichkeit gescheiterte Wesen alle, wie Ionesco und Livia Anne Richard uns vor Augen führen – wird einen fesselnden Theaterabend lang bestürzende Wirklichkeitsnähe.

Das Theater Gurten hat Tradition weit über Bern hinaus. Livia Anne Richard und ihr bewährtes Ensemble haben mit Ionescos „Nashörnern“, einer dem heutigen Zeitgeist angemessenen Produktion, der bekannten und beliebten Marke „Theater Gurten“ ein weiteres, bemerkenswertes Kennzeichen hinzugefügt.

Selbstredend steht hinter dem Ensemble auf der Bühne auch eine umfangreiche personelle Projektorganisation. Was diese Frauen und Männer im Vorfeld geleistet haben und bei jeder Vorstellung bis im August noch leisten werden, verdient ebenfalls den uneingeschränkten Dank der Theatergäste auf dem Berner Hausberg.

Bild © Andreas von Gunten

Aufführungen bis 19. August 2016.

Theater Gurten

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