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Ida war ein Turnachkind

Ida Bindschedler hat die «Turnachkinder» geschrieben, Erzählungen aus ihrer eigenen Kindheit. Sie wurden Bestseller und begeistern bis heute. Über das Leben und Wirken der Autorin hat Judith Burgdorfer ein Buch verfasst.

Vor ziemlich genau siebzig Jahren las unsere Primarlehrerin in der zweiten Klasse Die Turnachkinder im Sommer vor, später den zweiten Band Die Turnachkinder im Winter. Ich liebte die Geschichten und lernte mit ihnen lesen. Nun habe ich mich als Seniorin erneut in die Bücher vertieft. Und sie packen mich wieder. Sogar an einzelne Passagen kann ich mich erinnern, nach so langer Zeit.

Ida Bindschedlers Jugendbücher werden seit über hundert Jahren immer wieder neu aufgelegt, heute auch digitalisiert. Doch wer war die Autorin, über deren Kindertage wir dank der Turnachkinder so viel wissen, über ihren späteren Lebensweg und ihr Aussehen jedoch nur wenig. Lediglich zwei Schwarz-Weiss Porträts sind von ihr veröffentlicht.

Die Biografin Judith Burgdorfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der 1918 gegründeten R.G. Bindschedler-Familienstiftung. Aufgrund des Archivmaterials konnte sie Bindschedlers Leben nachzeichnen und mit teilweise biografisch gefärbten Texten ergänzen, die Ida Bindschedler in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte.

Ida Bindschedler (1854-1919) kam im Haus zum Gewölb als zweite Tochter von Friedrich und Anna Bindschedler-Tauber am Weinplatz 7 in Zürich zur Welt. Der Vater war ein erfolgreicher Baumwollkaufmann. Die Mutter stammte aus Fürth (Bayern) und brachte die deutsche Geisteskultur ins Haus. Schillers Gedichte rezitierte sie jeweils vor dem Frühstück, unterstützt von den Kindern. Sechs Kinder waren es: Zwei Jahre nach der ersten Tochter Emma kam Ida 1854 zur Welt, 1855 der Bruder Johann Rudolf, 1856 Pauline, 1860 Maria Elisabeth und 1864 Arnold Wilhelm. Mit ihren fünf Geschwistern erlebte Ida eine glückliche Kindheit, an die sie sich in ihren Büchern lebhaft erinnert.

Zürich, Haus zum Gewölb am Weinplatz 7. Kaum vorstellbar wie die kleinen Turnachkinder im Winter auf den Dächern herumkletterten. Foto: BAZ

Während der Sommermonate zog die Familie jeweils in die Solitüde, wo heute das Bellerive Zentrum Architektur steht. Für wohlhabende Familien war es üblich, in der warmen Jahreszeit dem Lärm und dem Gestank der Stadt zu entrinnen; in Zürich wurde die Abwasserkanalisation erst nach 1860 realisiert. Die Solitüde, erworben von Idas Grossvater, lag direkt am See und wird in den Kinderromanen «Seeweid» genannt.

Landgut Solitüde («Seeweid»), Künstler und Datum unbekannt. Der Landsitz aus dem 18. Jahrhundert wurde 1924 abgebrochen, das Seeufer aufgeschüttet. In der 1931 erstellten Villa befand sich später das Museum Bellerive, heute das Zentrum Architektur. Foto: BAZ

Ida Bindschedler gehörte in der Schweiz zu den ersten Frauen, die mit behördlicher Erlaubnis in Bern und Zürich das Seminar besuchen und Lehrerin werden durften. Das «Fräulein Bindschedler» blieb unverheiratet, denn das Lehrerinnenzölibat war noch bis in die 1940er Jahre in der Schweiz wirksam und wurde erst 1965 aufgehoben. Man traute Lehrerinnen nicht zu, gleichzeitig Gattin und Mutter zu sein.

Die 1836 gegründete private Einwohner-Mädchenschule in Bern bildete Lehrerinnen aus. Diese hatte das Ziel, die «Jugend zu freiem Menschentum zu erziehen, befreit von den Fesseln der Standes- und Glaubensunterschiede». Bereits bei der Aufnahmeprüfung begegnete Ida ihrem späteren Mentor Joseph Viktor Widmann (1842-1911), Lehrer für deutsche Sprache und später Schriftsteller und Feuilleton-Redaktor beim Bund. Mit Widmann blieb sie bis an dessen Lebensende freundschaftlich verbunden.

Ida Bindschedler (21) im Jahr 1875. Foto: Wikimedia Commons

Ihre erste Stelle als Primarlehrerin trat sie im Mai 1873 an der privaten Mädchenschule von Henriette «Netta» Tobler-Hattemer (1836-1917) in Zürich an, der sie mit Unterbrüchen 24 Jahre treu blieb. Nach einer Weiterbildung am Lehrerseminar in Küsnacht unterrichtete sie an der Primarschule in Dietikon. Im Unterschied zu den braven Mädchen an der Tobler-Schule hatte sie nun «ein Heer unglaublich unartiger Buben und Mädchen» vor sich, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Nach zwei Jahren in Dietikon und einem weiteren in Hirslanden absolvierte sie das Sekundarschulexamen, bevor sie 25-jährig nach Paris ging.

Den Lebensunterhalt in Paris finanzierte Ida mit dem Unterricht an einem Mädchenpensionat sowie als Privatlehrerin in vornehmen Häusern. Mit einer dieser Familien verbrachte sie einige Sommermonate in der Normandie. Von diesem Aufenthalt schreibt sie in der Erzählung In Tante Nina’s Garten. Nach 18 Monaten reiste Ida nach England, wo sie ebenfalls in einem gehobenen Pensionat unterrichtete. Doch bereits ein halbes Jahr später kehrte sie im Frühjahr 1881 nach Zürich zurück und legte das französische Fachexamen ab, um auch als Französischlehrerin arbeiten zu können.

Erneut unterrichtete sie an der Tobler-Schule und ab 1885 zusätzlich an der Mädchensekundarschule am Hirschengraben. Sie ging bei einem Schuldienst von über 40 Wochenstunden restlos in ihrer pädagogischen Aufgabe auf. 1897, im Alter von 43 Jahren, sah sich Ida Bindschedler gezwungen, ihr Lehramt wegen Herzproblemen aufzugeben.

Ida Bindschedler, vermutlich in Augsburg, undatiert. Foto: Martin Bader-Polt, Staatsarchiv Thurgau

Trotz umfangreicher Recherchen fand die Biografin Judith Burgdorfer keine weiteren Informationen zu Idas Herzleiden. Ida selbst erwähnte es lediglich einmal in einem Brief sowie im Nachruf auf Netta Tobler-Hattemer 1917: «Später konnte ich wegen meines Herzleidens die Treppen im Haus an der Asylstrasse nicht mehr ersteigen. Wir, Frau Professor und ich trafen uns dann im Waldhaus Dolder oder sonst wo in einem Kaffeegarten.»

In Zürich wohnte Ida zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Pauline. Als sie ihren Beruf 1897 aufgeben musste, zog sie zu ihrer Freundin Emma von Wachter nach Augsburg. Hier fand sie zur Schriftstellerei. Doch bereits früher hatte sie für Zeitschriften wie etwa 1891 für Die Philantropin geschrieben, wo sie ihren Unmut über die realitätsfremden Mädchenbücher ihrer Zeit ausdrückte.

«Die Turnachkinder im Sommer», 1906, und die «Turnachkinder im Winter», 1909. Auf dem Buchumschlag sind nicht die Turnachkinder abgebildet, sondern die Kinder des Verlegers Huber in Frauenfeld.

1906 erschien Ida Bindschedlers erstes Jugendbuch Die Turnachkinder im Sommer. Ihr autobiografisches Erinnerungswerk wurde ein Bestseller. Neben Johanna Spyri wurde sie zur bekanntesten Schweizer Jugendbuchautorin. Joseph Viktor Widmann schrieb eine begeisterte Rezension im Bund und wünschte eine Fortsetzung. Diese gab Ida Bindschedler drei Jahre später 1909 mit Die Turnachkinder im Winter heraus. Während die Geschichten im ersten Band von der Zeit um 1860 am See erzählen, berichten sie im zweiten Band vom Leben in der Stadt. Heute sind Bindschedlers Erzählungen auch für Erwachsene kulturhistorisch spannend, zumal sie die Lebensweise einer Zürcher Kaufmannsfamilie wiedergeben.

Todesanzeige von Ida Bindschedler, 1919, in der NZZ. Bild aus dem Buch

Neben der Lebensgeschichte enthält Judith Burgdorfers Biografie auch Erzählungen aus Frankreich, Reiseberichte sowie Novellen, die Bindschedler zwischen 1891 und 1917 hauptsächlich in der Schweizerischen Lehrerzeitung sowie im Sonntagsblatt des Bund veröffentlicht hatte. Da viele dieser Texte biografisch unterlegt sind, ergänzen sie jene Lebensabschnitte, für die keine Zeugnisse vorhanden sind.

Während des Ersten Weltkriegs gab Ida Bindschedler ihre schriftstellerische Tätigkeit fast vollständig auf, um mit Soldaten im Feld und mit Kriegsgefangen zu korrespondieren. Deren Leid machte ihr zu schaffen. Leider sind diese Briefe nicht erhalten. Auch über Idas letzte zweiundzwanzig Lebensjahre mit ihrer Partnerin in Augsburg ist kaum etwas bekannt.

Seit 1995 gibt es im südlichsten Teil im Zürcher Seefeld die «Ida-Bindschedler-Strasse». Foto: Adrian Michael, Wikimedia Commons.

Am 28. Juni 1919 starb Ida Bindschedler 65-jährig während eines Besuchs in Zürich. Ihr Grab ist längst aufgehoben. Doch 60 Jahre nach ihrem Tod brachte die Stadt Zürich eine Gedenktafel an ihrem Geburtshaus am Weinplatz 7 an. Und 1995 wurde ihr zu Ehren im Riesbach-Quartier, wo sich das Sommerhaus der Turnachkinder befand, die Ida-Bindschedler-Strasse eingeweiht.

Judith Burgdorfer, «Ida Bindschedler. Leben, Wirken und Werk der Turnachkinder-Autorin», NZZ Libro Verlag, Basel, 2024. ISBN 978-3-907396-71-1

 

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