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Eine archaische Antigone

Sophokles’ Antigone beunruhigt noch immer: Stefan Pucher inszeniert den Klassiker zum Saisonauftakt in der Zürcher Schiffbau-Halle.

Ödipus’ Söhne Polineikes und Eteokles sind tot. Die Zwillingsbrüder haben einander im Streit um den Thron das Leben genommen. Während Eteokles gefeiert und nach den religiösen Sitten begraben wird, untersagt Kreon, der neue König von Theben, den angeblichen Verräter Polineikes zu bestatten. Wer sich nicht an dieses Verbot hält, missachtet die Gesetze des Staates und muss für sein Vergehen mit dem Leben bezahlen. Antigone, die Schwester der Toten, kann und will nicht akzeptieren, dass durch die verordnete Unterlassung des Beerdigungsrituals gegen den Willen der Götter verstossen wird. Sie streut Erde über den Leichnam ihres Bruders Polineikes. Dies nimmt Kreon zum Anlass, die Ödipus-Tochter in einem Felsengrab lebendig einzuschliessen. Dort begehen sie und Kreons Sohn Haimon Selbstmord.

Ein Stück, das direkt ins Heute trifft

Sophokles’ zeitloser Klassiker, der befragt, wo die Grenzen liegen zwischen Politik und Humanität, zwischen Reform und Menschlichkeit, zählt zu den grundlegenden Texten der abendländischen Kultur. Mühelos überspringt die Tragödie die über 2400 Jahre seit ihrer Entstehung und trifft direkt ins Heute – so auch in der pompösen Inszenierung von Stefan Pucher, die zum Saisonstart des Schauspielhauses Zürich in der Schiffbau-Halle Premiere feierte. Es ist eine aussergewöhnlich aggressive, archaische, hervorragend besetzte und durchwegs fesselnde Inszenierung, die am Eröffnungsabend mit viel Applaus bedacht wurde.

Hans Kremer als machthungriger Despot Kreon.

Pucher zeigt Antigone in einer Bearbeitung des Autorengespanns Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, die die Tragödie in eine heutige und gleichzeitig archaische Gesellschaft verlegt hat. Die Sprache ist teils ordinär, ein Laienchor verkörpert die ambivalente Medienwelt. Auf kreuzförmig angebrachten Grossleinwänden ist aktuelles Kriegsgeschehen zu sehen, eine Live-Band untermalt die Tragödie mit rockigen und poppigen Einlagen. Gespielt wird quer durch die ganze Halle, die Zuschauer sitzen auf drei Seiten steil übereinander. Die Protagonisten agieren teils von den Zuschauerreihen aus, ihre Gesichter werden grossflächig auf die Leinwände projiziert. Die Bühne ist mit zwei laufstegähnlichen Aufbauten mit fahrbaren Stühlen drauf versehen (Bühnenbild: Barbara Ehnes).

Kreon als beispielloser Tyrann

Moral gegen Macht, Gewissen gegen Gesetz, Menschlichkeit gegen Politik – ohne Geschwafel und psychologisches Getue, dafür mit Live-Musik und grossflächigen Video-Projektionen präpariert Pucher diesen zeitlosen Konflikt heraus und versetzt das Stück mit vielen aktuellen Anspielungen in unsere konfliktträchtige Gegenwart. Was damals schief gelaufen ist, läuft auch heute schief. Wo die Macht absolut ist, geht es nur nach unten. Bei Pucher ist Kreon ein beispielloser Despot, der keine Gnade kennt und sein tyrannisches Handeln skrupellos auslebt und am Schluss mit dem Leben bezahlt. Ihm zur Seite agiert ein 21köpfiger Journalistenchor, der teils maskiert mit Kadavergehorsam das Machtspiel Kreons lautstark unterstützt. Antigone ist für Kreon ein «Hurenkind», das seine Existenzberechtigung verspielt hat. An realen, aktuellen Vorbildern für diese Konstellation mangelt es nicht. Trotzdem wirkt das ganze Spiel etwas grobschlächtig und wenig differenziert, verkommt das Machtmissbrauchsspiel beinahe zur Farce.

Der blinde Sehen er (Siggi Schwientek) und der Journalistenchor in der Bildmitte, links und rechts die drei Live-Musiker.

Grossartig ist die schauspielerische Leistung der Darsteller, allen voran Hans Kremer als machthungriger Despot Kreon. Elisa Plüss verkörpert eine etwas gar pubertäre Antigone, die vor Selbstgefälligkeit strotzt. Grossartig sind auch die Auftritte von Jean-Pierre Cornu als schleimiger und hinterlistiger Berater Kreons und Siggi Schwientek als blinder Seher Teiresias. Grandios, wie Schwientek im blauen Jogginganzug dem mächtigen Kreon das baldige Ende prophezeit. Zu gefallen wIssen auch Julia Kreusch als angepasste und verführerische Ismene (Schwester von Antigone) und Daniel Lommatzsch als Kreons zerrissener Sohn Haimon. Lobende Erwähnung verdient schliesslich noch das Live-Musik-Trio mit Réka Csiszér, Hipp Mathis und Becky Lee Walters.

Die tote Antigone (Elisa Plüss) wird vom maskierten Journalistenchor weggetragen(Fotos: Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Weitere Spieldaten: 14., 18., 20., 21., 22., 26., 28., 29. September, 1., 6., 7., 10., 13., 14., 16., 17., 18., 21., 24. Oktober

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