StartseiteMagazinKulturDer Stausee und die Kunst

Der Stausee und die Kunst

Gutes Schuhwerk brauchts für die Wanderung zum Kunstprojekt „Arte Albigna“ im Bergell.

Felsformationen, Geröllhalden, Bergseen, Granitzacken sind Kunstwerke der Erosion, die in Millionen von Jahren geformt wurden. Viel später hat auch der Mensch seine Spur ins Hochgebirge gelegt. Zunächst mit Wegen, später mit Bauten wie Schutzhütten oder massiver mit der Nutzung der Wasserkraft. Beim Albigna-Stausee im Bergell sind einen Sommer lang Eingriffe anderer Art zu sehen: Es sind Interventionen von dreizehn Künstlerinnen und Künstlern die sich auf die hochalpine Felslandschaft, die Wasserkraft und das Tal beziehen.

Manfred Alois Mayr: ding-dong-dang, 2017

Der Verein Kunst im Bergell wird mit diesem spektakulären Projekt, das andere Kunstausstellungen in der Landschaft beschaulich aussehen lässt, dem Bergell gewiss viele zusätzliche Touristen besorgen. Bergwanderer, Bergsteiger, Kletterer kennen das Gebiet am Albigna-Stausee und suchen ihre Routen jährlich auf. Nun soll in diesem Sommer auch das kunstinteressierte Publikum ins Hochgebirge kommen, kundig geführt oder allein. Zwar lassen sich fast tausend Höhenmeter von Pranzaira bis zur Staumauerkrone mit einer Kabinenbahn überwinden, aber auch der Spaziergang zur SAC-Hütte und weiter hinauf ist nicht zu unterschätzen.

Im Tal läuteten alle Kirchenglocken, als am 24. Oktober 1954 der Millionenkredit für den Stausee Albigna in Zürich gesprochen wurde. Heute ist das EWZ Hauptsponsor des Kunstraums unter freiem Himmel, in den der Churer Galerist Luciano Fasciati und die Kuratorin Céline Gaillard dreizehn Künstlerinnen und Künstlern eingeladen haben. An den Jubeltag 1954 im armen Bergell erinnert das Glockenspiel auf der Staumauerkrone. Manfred Alois Mayr hat sich an Industriematerialien orientiert, erinnert also an den Bau der Staumauer.

Reto Rigassi: Hexenträume (Transmutationen), 2017, Absinth (Artemisia), Eiweiss und Glimmer auf Holz. © 2017, ProLitteris

In der Talstation der Seilbahn empfängt uns nebst Rigassis Tafelbilder die Leuchthandschrifttiramisù – lasciamilì – buttamigiù (zieh mich hoch – lass mich dort – wirf mich runter), deren Titel Another day in paradise nicht weniger rätselhaft ist. Judith Alberts Engagement gilt dem Orakel, zugleich verweisen die Wörter auf Kletterrouten in der Umgebung. Aber vorerst werden wir in der Kabine hochgezogen, vorbei am nächsten irritierenden Objekt:

Der kleine dreirädrige blaue Piaggio, scheint rasend schnell die Staumauer hinunterzufahren, schnell wie die Wassermassen, die im Druckrohr zu den Turbinen geführt werden. Da die Höllenfahrt nur einmal möglich wäre, hat Roman Signer das Ding fast unsichtbar fixiert. Signer wusste schon bei der ersten Bergfahrt, dass die Mauer sein Spielplatz sein werde.

Ebenfalls fasziniert von der gigantischen Anlage, die Elektrizität fürs ferne Zürich herstellt und dem Bergell Wasserzinsen beschert, ist Bob Gramsma. Er liess drei typische Zürcher Strassenlaternen im Fels oberhalb des Stausees aufstellen. Sie leuchten nicht, aber sie bringen ein Stück Zürich an den Ort, wo die Energie für dessen Strassenbeleuchtung erzeugt wird.

Isabelle Krieg: Salon O, 2017, eingerichtet in einer Hirtenschutzhütte aus dem 19. Jahrhundert. © ProLitteris

Vor zwei Jahren begann die Arbeit an Luciano Fasciatis Traum vom Kunstraum im Hochgebirge. Die Künstlerinnen und Künstler konnten sich an Ort und Stelle umsehen und ausdenken, was sie wo aufbauen wollten. Beispielsweise findet der Kunstwanderer auf dem Weg zur Capanna da l‘Albigna kleine Feuer aus Blechtafeln – archaische Symbole für Energie, Hinweis auf die Höhenfeuer im Zusammenhang mit dem Alpenschutz, hier entfacht von dem Künstlerduo Haus am Gern.

Die SAC-Hütte selbst beherbergt mehrere Arbeiten, beispielsweise Jules Spinatschs Fotografien aus dem Innern der Staumauer – Ingenieurskunst im Licht des Fotografen. Im Winter-WC hat Pippilotti Rist ihre Videoarbeit Berg Elle eingerichtet – ein hängender Felsbrocken, der auf der einen Seite die Sonne einfängt, auf der anderen eine Videoarbeit über die Kontinentalverschiebung und die Alpenfaltung zeigt.

Evelina Cajacob: BergZeichen, 2017. Spiel mit einem Bergseil im Video-Loop, Holzschuppen bei der Capanna da l’Albigna

Es tut gut, hier in diesem abgelegenen Kunstraum zu entdecken, wie die Künstlerinnen und Künstler arbeiten, sich mit den Gegebenheiten auseinandersetzen, assoziativ reagieren, mit ihren Erfahrungen und Arbeitsweisen etwas erfinden, das sich wiederum vollendet in ihr Gesamtwerk einfügt. Während Reto Rigassi, beeindruckt von den Hexenverfolgungen im Tal mit ephemeren Materialien, der Natur und dem Zufall arbeitet, wenn er seine Hexentränen(eine Konzeptarbeit zur Klimaerwärmung) realisiert, geht Jürg Stäuble (dessenRetrospektive zurzeit im Haus Konstruktiv, Zürich gezeigt wird) planmässig und geometrisch exakt vor bis zu einem Ziel, welches wiederum irritiert: Auf dem Albigna-Stausee schwimmt eine weisse Halbkugel – eine Boje, oder ein exakt geformter Eisberg? Deutliches Zeichen, winzig scheinend trotz vier Meter Durchmesser.

Remo Albert Alig: Nymphea Alba, 2016/17. Seerosen aus dauerhaften Materialien auf über 2500 Metern

Kunstprojekte in Randregionen sind eine Möglichkeit, deren Entwicklungspotential mit einem neuen Blick wahrzunehmen. Das betont der Alpenforscher Werner Bätzing in einem Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung. Er zeigt Wege auf, wie das Bergell weder zur alpinen Brache, noch zum touristischen Ergänzungsraum von St. Moritz verkommen muss, sondern die eigenen Ressourcen mit Kreativität und Innovation entwickeln kann, so dass auch Abgewanderte zurückfinden, die ihrerseits Impulse für die Erhaltung eines eigenständigen Lebensraums geben.

Yves Mettler: Hotel Helvetia, 2006/2017. Beutel mit handgenähtem Spielteppich, Würfeln und Spielregeln. 

Beschreibungen aller zwanzig Positionen finden Sie auf der Homepage von Arte Albigna. Dort gibt es auch einen Veranstaltungskalender sowie die nötigen Hinweise für Anreise und Übernachtung. Weitere Informationen über das Bergell finden Sie hier.

Alle Fotos: © Ralph Feiner
https://arte-albigna.ch/ 

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