Vierzig Jahre lang war Ueli Tobler (74) Landpfarrer im Berner Seeland. Seit seiner Pensionierung schreibt er berndeutsche Gedichte, publiziert Bücher, pflegt den Weinanbau und spielt Alphorn. Seniorweb hat den Wort-Werker, wie er sich selbst bezeichnet, an seinem Wohnort in Müntschemier besucht.
Das Gespräch findet in Ueli Toblers Büro im zweiten Stock eines alten Hauses statt. Weil ich Notizen mache, darf ich am Holzpult des Gastgebers sitzen. Vor mir ein Computerbildschirm, eine Tastatur, Familienfotos, ein Haustelefon sowie ein paar Reiseandenken. Hinter und neben mir zwei Büchergestelle mit theologischer Literatur, Gedicht- und Bildbänden und einem jiddischen Wörterbuch.
Tobler beim Alphornspiel.
Im Vorraum liegt ein zusammengestecktes Alphorn, bereit zum Üben. Eine Chaiselongue und ein gedrehter Tisch laden zum Verweilen, zum Lesen ein. An den Wänden: Zinnteller, alte Stiche und zwei Säbel aus früheren Jahrhunderten. Hat ein Pfarrer auch martialische Interessen? frage ich mich.
Mein Gastgeber nimmt auf einem Stuhl neben mir und dem Pult Platz. Hinter ihm ein metallener Aktenschrank. Auf meine Frage, ob er sich – nach Kurt Marti – als zweiter Berner Dichterpfarrer verstehe, winkt er entschieden ab. Die Bezeichnung treffe auf ihn nicht zu. Er fühle sich eher als Wort-Werker, ein Begriff, den er auch als Domain-Name seiner Homepage und in seiner Email-Adresse benutzt.
Mann des Worts: ein Gedicht als PDF: GE-DICHT.PDF
Tobler ist ein Mann des Worts, das er gerne mit Bedacht, ausdrucksstark, treffend sowie spielerisch einsetzt. Neben Prosa und Theaterstücken schreibt er gerne Gedichte. «Als Schriftsteller bin ich ein Spätzünder, habe erst mit 50, nach dem unerwarteten, viel zu frühen Tod unseres Sohnes begonnen zu schreiben», sagt er und ergänzt: «Ich will leserfreundlich schreiben.»
2004, als der Sohn starb, las er Rilke und verarbeitete mit dessen Gedichten die eigene Trauer. «Wie mein Vorbild liebe ich es, mit Worten zu spielen, ohne sonst ein Spieler zu sein.» Auch Lesen gehört zu Toblers Lieblingsbeschäftigungen. Derzeit liest er jiddische Schriftsteller, das jiddische Wörterbuch in seinem Büchergestell kommt dabei zum Einsatz.
Lesen gehört zu Toblers Leidenschaften.
Die jiddische Kultur fasziniert den ehemaligen Landpfarrer. Jetzt besonders, wo in der alten Heimat der jiddischen Kultur, in der Ukraine, Krieg herrscht. Der Gedanke zu Israel, zu den kriegerischen Auseinandersetzungen im Heiligen Land, zum menschlichen Elend im Gaza-Streifen, liegt da nicht fern. Tobler findet die Haltung, die Aggressivität der aktuellen israelischen Regierung «problematisch».
Politische Vision für Palästina
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist für ihn seit 1973 ein Thema, seit er als Erntehelfer in einem Kibbuz im Einsatz stand. Angesprochen auf eine mögliche Lösung gesteht er, dass er nicht mehr an ein Zweitstaaten-Modell glaubt. Zu zersiedelt, zu geteilt sei das Westjordanland, wo sich israelische Siedler Land genommen und Siedlungen gebaut haben.
Toblers Vision für eine Befriedung Palästinas ist die Einführung eines parlamentarischen Zweikammersystems, vergleichbar mit dem der Schweiz. Nur wären die Abgeordneten der zweiten Kammer nicht nach Kantonen, sondern nach den verschiedenen Bevölkerungsgruppen vertreten. «Eine solche Lösung ist leider mit Ministerpräsident Netanjahu und den Ultra-Orthodoxen undenkbar,» sagt der Theologe realistisch.
Das Gedicht «Chotzsack» als PDF: CHOTZSACK.PDF
Wir kommen auf die Situation der reformierten Kirche in der Schweiz zu sprechen. Da die Reformierten in unserem Land inzwischen eine Minderheit seien, stellte sich für ihn zwei Fragen: die nach der Existenzberechtigung – welche er aus Überzeugung bejaht – und die Frage, wie sich die reformierte Minderheit profilieren könne, um nicht weiter Mitglieder zu verlieren.
Als Grund für die Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Reformierten und Katholiken nennt er die demographische Entwicklung: mehr Todesfälle als Geburten und Taufen, während dieKatholiken von der Migration profitierten. Gegen die Austrittswelle sieht er vor allem ein Rezept: die reformierte Kirche müsse sich stärker profilieren und präsent sein, vor allem bei Jugendlichen und jungen Familien.
Über die Kirche kam Tobler auch zum Theater: «Das Evangelium zu leben hat einen dramatischen Ansatz: Das Leben ist eine Bühne, der Gottesdienst eine Inszenierung.» Als anlässlich der 800-Jahrfeier des Dorfs Ins im Festtheater ein Erzähler gesucht wurde, sagte der Dorfpfarrer spontan zu. 2006 war er Co-Autor des Stücks «Kiss me in Müntschemier», einer Auswanderungsgeschichte. 2017 schrieb er anlässlich des Reformationsjubiläums «Fluech u Säge» und 2022 kam sein berndeutsches Drama «3xHeimtland» in Müntschemier zur Aufführung.
Ein Leben nach dem Tod?
Der theologische Wortwerker am Dichten.
Beruflich, aber eben auch privat ist Tobler eng mit dem Thema Tod verbunden. In der Trauer geholfen hat ihm stets die Erfahrung, den Weg nicht allein gehen zu müssen – es ist der Weg Christi, den wir gehen. «In der christlichen Kirche klammern wir das Leid nicht aus, sondern leiden gemeinsam. Der Glaube hilft uns dabei, einen Verlust zu akzeptieren und zu verarbeiten.»
Auf die Frage, ob er an ein Leben nach dem Tod glaube, antwortet der pensionierte Pfarrer sibyllinisch: «Ich halte mich an Bilder, die sich während hunderten von Jahren bewährt haben. Das Bild vom Abendmahl ist ein Beispiel dafür: Ich bin nicht allein unterwegs. Und: Menschliches Leben ist Energie. Energie stirbt nicht, verändert sich nur.»
Tröstlich ist für ihn sein Glaube, dass es ein Jüngstes Gericht gibt. «Die Welt ist nicht gerecht. Ungerechtigkeiten und Lügen werden vor dem Jüngsten Gericht korrigiert.»
Im Oktober wird im Weber-Verlag (Gwatt) Ueli Toblers neustes Buch erscheinen: «Optimismus im Alter». Man darf gespannt sein.
Titelbild: Ein Mann des Worts, das Tobler gerne mit Bedacht, ausdrucksstark, treffend sowie spielerisch einsetzt. Fotos PS / ZVG
LEBENSLAUF
GEBOREN: 1950
KINDHEIT UND JUGENDZEIT: in der Stadt Bern aufgewachsen. Drei Brüder
Seit 1975 verheiratet mit Elisabeth, 1989-2014 Pfarrerin in Biel
Drei erwachsene Kinder, eines gest. 2004
Zwei Grosskinder
BERUFSZEIT
1969 – 1975 Theologiestudium in Bern, Zürich und Erlangen (Deutschland) mit Aufenthalt in Israel und Vikariat in Unterseen
1975 – 1976 Seelsorgeausbildung in Boston / USA
1976 – 2016 Pfarrer in der Kirchgemeinde Ins, zuständig für die Dörfer Brüttelen, Treiten und Müntschemier
1989 Studienurlaub mit Aufenthalten in Korea, Japan und auf Tenerife
1994 – 2010 Geschäftsführer der Schweiz. Ref. Arbeitsgemeinschaft Kirche und Landwirtschaft srakla
1996 – 2010 Vorstandspräsident des bäuerlichen Sorgentelefons 041 820 02 15
2001 – 2015 Ausbildung und Einsätze im Careteam des Kantons Bern
2012 Studienaufenthalt an der Facoltà Valdese, der evangelischen theologischen Fakultät in Rom.
LETZTE VERÖFFENTLICHUNGEN
«Wort-Steine – Bärndütschi Gedicht», Weber-Verlag, 2022.
«Was Anker-Bilder erzählen», Weber-Verlag, 2020.
CD mit Weihnachtsgeschichten und Alphorneinlagen, Mosaicstones-Verlag, 2014.
LINK