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Weltkultur im Spiegelbild

Plakatbild Spiegel-Ausstellung Museum Rietberg

Das Museum Rietberg präsentiert die kulturvergleichende Ausstellung «Spiegel – Der Mensch im Widerschein». Was mit dem Selfie omnipräsent ist – nämlich der Wunsch, sich zu spiegeln, gehört zum Homo Sapiens. So wurden schon in der Frühzeit Spiegel hergestellt und verwendet.

Schon der Eingang zum Museum ist kaum zu finden – versteckt hinter einem Spiegelkabinett, in dessen Flächen man sich selbst mehrfach entgegengeht, allerdings nicht so heftig, wie der gefilmte «Pfüderi», dessen Erlebnis mit einem Purzel endet, nachdem er den anderen im Spiegel kräftig antapst. Mit achtzehn Monaten können Menschen – anders als Wellensittiche oder Katzen – sich selbst erkennen.

Plakatmotiv: Fotografie: Dan Cermak; Crafft/Claudia Roethlisberger. © Museum Rietberg

Für seine letzte Ausstellung schöpft Albert Lutz, Rietberg-Direktor seit 1998 aus dem Vollen: Viertausend Jahre Weltgeschichte des Spiegels zeigt er, dabei viel Erstaunliches zutage bringend, den Humor nicht ausklammernd. Beides bietet das Video des menschlichen Auges als Spiegel – nicht der Seele, sondern des Museumspersonals, das sich in der Iris von dunklen oder hellen Augen auf der Wiese im Park selbstdarstellt. Und beim Ausgang können sich alle mal geschönt wie ein Influencer angucken: die Waschraum-Installation von Li Wei machts dank Software hinterm Lavabo möglich.

Aber der Reihe nach. Das gespiegelte Ich dieser Ausstellung beginnt naturgemäss mit dem Mythos des Narziss, jenem jungen Jäger, der sich in einem Teich in sein Spiegelbild verliebte, daran starb und die Narzisse hervorbrachte – nachzulesen in Ovids Metamorphosen. Die Wirkungsgeschichte des Mythos – von der Miniatur in einer Handschrift aus dem Mittelalter über Giovanni Segantinis Eitelkeit, der schönen Nackten, die im Quellbecken statt ihr Spiegelbild einen Drachen erblickt, bis zum Videodiptychon Surrender von Bill Viola – geht bis ins Jetzt.

Frau im Spiegel. Paul Delvaux (1897–1994), 1936 Öl auf Leinwand, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid, © Estate of Paul Delvaux / 2019, ProLitteris, Zurich

Gleich neben dem Lebensbeginn mit dem erwähnten Kleinkind ist der Tod thematisiert: mit einem Totenspiegel aus der Innerschweiz – wohl eine Arbeit von Eltern zur Trauer ihrer nach dem Jahr ohne Sommer 1816 verstorbenen Kinder, daneben das Zitat von Jean Cocteau: «Mit jedem Blick in den Spiegel sieht man den Tod an der Arbeit,» und ein Stück Totentanz von Konrad Witz, nämlich die Edelfrau samt Handspiegel.

Spiegel und Frau ist ein Thema, das auch anders als im Sinne der Vanitas gezeigt werden kann. Selfies avant la lettre, nämlich Fotos von Frauen, die ihr Spiegelbild fotografieren, sich selbst inszenieren – Künstlerinnen, selbständige Frauen, unter anderen Marianne Breslauer, Nan Goldin, Annelies Štrba – hat Kuratorin Christin Müller ausgewählt.

Selbstporträt mit Leica. Ilse Bing (1899-1998), 1931 Silbergelatineabzug, 19,5 x 21,5 cm © Thomas Walther Collection

Der voyeuristische Blick des Künstlers in die intimen Frauenräume und -träume passt als Kontrapunkt perfekt, beispielsweise mit der Serie japanischer Holzschnitte und später Fotografien von Geishas mit Handspiegeln, oder den Gemälden aus der Renaissance. Damals entstanden zahlreiche Gemälde mit dem Spiegel im Bild: Susanne im Bade, oder auch die Medusa sind ohne Spiegel undenkbar. Ebenso gewann das Selbstporträt an Bedeutung. Das Bild Herkules bei Omphale verdient einen genaueren Blick, nicht weil es ein besonderes Meisterwerk ist, sondern wegen der Ikonographie: Eigentlich als Vanitas-Darstellung (Omphale, ausgestattet mit Herkules Keule und Löwenmähne sich im Spiegel betrachtend, während Herkules mit dem Spinnrocken zu ihren Füssen liegt) gegen übermächtige Frauen gemeint, dürfen wir diesen Triumph heute auch anders deuten.

Haute Couture mit Sonnenplissee für die Sonnengöttin Amaterasus. Design Kazu Huggler

Eine Augenweide ist die Installation der japanischen Sonnengöttin Amaterasus bei ihrer Rückkehr aus der Höhle, wo sie sich erschöpft zurückgezogen hatte und die Erde im Finsteren zurückliess. Wegen plötzlicher Fröhlichkeit vor der Höhle wird sie neugierig, blickt heraus und entdeckt sich in einem Spiegel, der ihr Licht wiederum über die Erde verbreitet. Diesen Moment hat die Couturière Kazu Huggler gewählt – zeigt die Göttin mit einem wunderbaren weissen Gewand aus Sonnenplissee. Amaterasus steht am Beginn eines Parcours durch die Geschichte des Spiegels in allen Erdteilen von poliertem Obsidian aus dem Neolithikum, Halbedelstein-Spiegel aus dem präkolumbianischen Amerika, Malerei und Skulpturen mit Spiegel-Geschichten aus Ost und West bis zu Kraftfiguren aus dem Kongo.

Spiegel waren wichtig bei Ritualen, spätestens seit der Bronzezeit vor allem blanke Flächen im handlichen Format für die Selbstbetrachtung. Sie sind meist rund wie die Sonne mit einer Verzierung auf der Rückseite. Das älteste Stück aus Ägypten wurde – wie die Nachforschungen ergaben – im Auftrag eines Manns für seine Tochter «zur Betrachtung des Gesichts» hergestellt. Bronzespiegel kannten die Chinesen, die Griechen der Antike, die Römer, die Etrusker. Ich erinnere mich an die zahllosen Objekte im Etrusker-Museum von Volterra, bevor es modernisiert wurde.

Vom 13. Jahrhundert an gelang es, Spiegel aus Glas herzustellen. Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Gläser mit Quecksilber-Amalgam beschichtet. Dessen hochgiftige Dämpfe führten bei den Spiegelmachern zu einem frühen Tod.

Die Geisha. Tomimoto Toyohina, Edo-Zeit, 1792 – 1795 Holzdruck, © Museum Rietberg Zürich

Aber die Spiegel aus den Glasmanufakturen in Murano und anderen Werkstätten in Mitteleuropa wurden zum grossen Exportschlager. So zeigt die Ausstellung ein Bild aus der Mogulzeit in Indien, auf der sich ein Prinz im Handspiegel betrachtet. Indisch sind auch die bunten Kleider mit den aufgenähten kleinen runden Spiegelchen.

Der Höhepunkt der europäischen Spiegelproduktion lag zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, erinnert sei an die vielen Spiegel, die in Saint-Gobain für Versailles hergestellt wurden. 1860 endlich gelang es dem Chemiker Justus Liebig eine giftfreie Technologie zu finden, nämlich Glas mit Silber zu beschichten, heutige Spiegel haben meist eine Aluminiumschicht.

Mit dem Spiegel setzen sich auch zeitgenössische Künstler auseinander. Beispielsweise Gerhard Richter, in dessen haargenau dimensioniertem Spiegel – auf der Rückseite signiert – die anderen Werke der Umgebung, darunter Mirror von Roy Lichtenstein. Besonders gut in das globale Konzept der Schau passt Octagon von 2013, ein Spiegelobjekt der iranischen Künstlerin Monir Shahroudy Farmanfarmaian, das traditionelle Ornamentik in Einklang mit Abstraktion bringt.

Im Spiegellabyrinth. Aus: The Lady from Shanghai von Orson Welles

Filmausschnitte mit Spiegelszenen ergänzen die Ausstellung, Cocteaus Orphée, wo Jean Marais durch einen Spiegel die Unterwelt betritt (der Trick ist ein Quecksilberbad, daher trägt der Darsteller Handschuhe), oder das tödliche Finale aus Orson Welles Lady from Shanghai.

Dem Spiegel der Seele, der Spiritualität rund um den Spiegel gilt eine weitere Abteilung dieser umfassenden und überaus reichen Ausstellung. Christentum, Zen-Buddhismus, Sufismus und Hinduismus kennen den Mystiker, der seine Seele polieren soll, damit er zum Reflektor von Gott werden kann.

Museumsdirektor Albert Lutz mit sich selber am Tisch – aber wo sitzt das Original?

Doch was mit Narziss beginnt, soll auch mit Narziss enden, dachte sich Albert Lutz, für den sein letztes Werk fürs Rietbergmuseum zum Rückspiegel auf seine grossen kulturvergleichenden Ausstellungen wird. Auf den ersten Blick ist Paul Camenischs Schweizer Narziss nicht aufregend, aber wer die Kacheln im Badezimmer neben dem sich spiegelnden jungen Mann anschaut, weiss, worum es dem Maler 1944 ging: um die Schrecken des totalen Kriegs.

bis 22. September
Fotos: E. Caflisch
Museum Rietberg: Spiegel. Der Mensch im Widerschein

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