Etienne Kallos schuf mit seinem ersten Spielfilm «The Harvesters» eine vielschichtige und vieldeutige Parabel über die Identitätssuche einer religiösen Siedlergemeinschaft in Südafrika.
Die Morgendämmerung bricht an, das Licht hat die Nacht noch nicht ganz bezwungen. Schatten bewegen sich im Haus. Bald brechen die Männer auf, um ihr Vieh zusammenzutreiben. Wir sind in Südafrika, im ehemaligen Oranje-Freistaat, der letzten Bastion der Afrikaaner, der früheren Buren, Nachkommen protestantischer niederländischer und anderer Siedler, die ab 17. Jahrhundert hier ankamen. Ihre Ausstattung war rudimentär: Gewehre, Ochsenkarren und vor allem Bibeln. Jahrhunderte sind ins Land gezogen, die Apartheid ist abgeschafft, und die schwarze Bevölkerung hat ihre Freiheit. Doch hier im Free State scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die langen und ruhigen Einstellungen schaffen uns Zeit und Raum, diese fremde Welt kennenzulernen.
Die Kamera von Michal Englert und die Musik von Evgueni und Sacha Galperines widerspiegeln die Befindlichkeit dieser religiösen Gemeinschaft. Ihr hermetisch abgeschlossenes, durchreglementiertes Universum erlaubt Janno, dem neben drei kleinen Schwestern einzigen Sohn der Familie, kaum Fantasie und Auslauf: Früh am Morgen aufstehen, den Tag bei jedem Wetter auf den Feldern arbeiten, am Abend gemeinsam Nachtessen und Beten, am Sonntag mit der ganzen Familie in die Messe gehen. Alles ist geprägt von Kargheit in dieser Hochburg der weissen Afrikaans-Minderheit, die vor allem von der Landwirtschaft lebt und Männlichkeit und Stärke als hohe gesellschaftliche Werte feiert, welche Vater Jan mit lauten Worten und Mutter Maria mit stillen Gebeten vertritt. Janno entspricht in keiner Weise diesem Ideal. Er ist still, weich und empfindsam. Als seine Mutter den Strassenjungen Pieter ins Haus holt, um ihm zu helfen, respektive ihm durch Janno helfen zu lassen, ändert sich sein Leben grundlegend. In der Familie und vor allem zwischen den beiden jungen Männern entwickelt sich eine unterschwellige Dynamik.
Eine besondere Qualität des Films «The Harvesters» (Erntearbeiter) von Etienne Kallos besteht darin, dass er verschiedene Zugänge und Deutungen anbietet, auf die er im nachfolgenden Statement verweist, wo er sich nicht als Wissender, sondern als Fragender versteht. So kann der Film als Porträt einer geschlossenen religiösen Gruppe gelesen werden, die ihre Identität sucht. Oder als Thematisierung der Nächsten- und Gottesliebe. Gedeutet werden kann er auch als Geschichte psychisch moralischer Spannungen zwischen Verzicht und Ausleben. Oder als Erzählung des nicht erfolgten Coming-Out eines Homosexuellen. Oder als Darstellung des Prozesses der Konstruktion von Männlichkeit und Frömmigkeit. Weiter kann er als Variante der biblischen Geschichte von Kain und Abel verstanden werden.
Mutter erzählt wundersame Geschichte
Schwelendes Feuer, draussen wie drinnen
Janno kann alles, er arbeitet hart, gibt sein Bestes im Rugbyspiel, betet inbrünstig, kommt aber dennoch von den befremdlichen Blicken seiner Eltern und den Hänseleien seiner Spiel- und Klassenkameraden nicht los. Denn er ist keiner von ihnen. Und jetzt noch mit Pieter, der in die Familie integriert und von ihm als Bruder angenommen werden soll! Die Mutter versucht, mit ihrem Sohn dieses liebenswürdig vorgetragene, jedoch gewaltsam erlebte caritative Unternehmen durchzusetzen. Alles eingebettet in Landschaften aus Hell und Dunkel, welche die Stimmung der Menschen konkretisieren.
Kallos beweist mit «The Harvesters» grosses Talent bei der Inszenierung starker Charaktere, die im Lauf der Geschichte eindrückliche Entwicklungen durchmachen, angesiedelt in einem wunderbar kadrierten Dekor mit bald üppigen, bald kargen Schauplätzen, mit lichten Aussenräumen in einer Mischung aus erdigem Ocker und gelblichem Grün des Grases, im Kontrast zu den fragmentierten, spärlich beleuchteten, oft unheimlichen Innenräumen. Hier schreitet die Geschichte in unerbittlicher, realistischer Logik und kaum vorhersehbaren Wendungen voran, deren Potenzial sich erst gegen Schluss entfaltet.
Janno (r) und Pieter
Statement von Etienne Kallos zu «The Harvester»
«Free State ist eine faszinierende Region: der so genannte Bible Belt (Bibelgürtel) Südafrikas und das Herz der Kultur der Afrikaaner. Überall Maisfelder, Bauernhöfe und Kirchen. Der östliche Teil ist besonders spannend, weil er sehr zerklüftet ist, viel wilder als der Westen. Es gibt etwas Mysteriöses und Kraftvolles in dieser Landschaft, etwas, das dich packt und nicht mehr loslässt. Mitten im Nirgendwo könnten diese Höfe paradiesische Orte sein, aber die Fenster sind vergittert. Und eine beklemmende Angst liegt in der Luft. Morde an Landwirtschaft treibenden Afrikaanern sind häufig, ohne dass man wüsste, wer die Täter sind: unzufriedene Feldarbeiter oder einfach Diebe?
Dann schwebt die Idee im Raum, dass die Regierung zugunsten der schwarzen Mehrheit im Land die Enteignung der Weissen vorantreiben sollte, ohne jede Entschädigung. Wird man den Afrikaanern die Höfe wegnehmen? Muss man es tun? Ich weiss es nicht, aber es bringt interessante Fragen der Zugehörigkeit auf den Tisch. Ich habe Respekt für die Art, wie Afrikaaner ihre Erde bearbeiten, und grosse Sympathien für die junge Generation. Ich wollte vom Teenager-Alter sprechen, von der ersten Generation, die komplett nach der Apartheid aufgewachsen ist.
Die Frage dieses Erbes wird im Film nie direkt angesprochen, aber sie ist über das Gefühl der Entfremdung meines kleinen Helden, Janno, präsent: seine Einsamkeit, die Angst, verurteilt zu werden: Wie lebt man mit der Last des Kolonialismus, und selbst des Post-Kolonialismus, während es darum geht, aus Südafrika ein gesundes und friedliches Land zu machen? Muss man alles verbannen, was die früheren Generationen verkörpert haben, um Afrikaner zu werden? Es ist auch meine Erfahrung, die eines Afrikaners mit europäischen Wurzeln.
Ich verstehe das Gefühl, im Innern einen Bruch zu erleben, im selben Atemzug zu lieben und zu hassen, sich nicht heimisch zu fühlen: Du wächst mitten in einer Gemeinschaft auf und dann plötzlich, als Heranwachsender, merkst du, dass du nicht wirklich dazugehörst. Ich bin selber eine zweigeteilte Person und wollte diesem Gefühl über die Beziehung zwischen Janno und Pieter nachgehen. Ich konzipierte die Figuren als zwei Teile einer einzigen Seele, zwei Teile, die im Krieg stehen, in denen sich Liebe und Hass vermischen, die komplett eingenommen sind von der Suche nach ewiger und unersättlicher Dominanz. Diese Art Bruderschaft kann nicht in Worte gefasst werden, es ist aber faszinierend, sie filmisch umzusetzen, in einer Spannung zwischen Innen und Aussen. So bleibt es trotz des politisch-sozialen Kontextes eine Geschichte, die in erster Linie eine intime ist.»
Titelbild: Janno
Regie: Etienne Kallos, Produktion: 2018, Länge: 96 min,Verleih: trigon-film