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Frauen, Männer und das Meer

Die Französin Mati Diop erzählt im Spielfilm «Atlantique» die Liebesgeschichte von Suleiman und Ada und gleichzeitig die Emanzipationsgeschichte von Frauen unter den Kapitalismus im Senegal.

«Atlantique» beginnt im Alltag auf einer Baustelle in Dakar und dem Protest der Arbeiter. Sie fordern ihren seit drei Monaten zurückbehaltenen Lohn. Einer von ihnen ist Souleiman, der wenig später seine Geliebte Ada am Strand trifft, obwohl diese dem reichen Omar versprochen ist, was für sie ein sozialer Aufstieg wäre, doch ohne jede Zuneigung der beiden. Abwechseln zeigt der Film dazu Bilder des Meeres, gelegentlich untermalt von der sehnsüchtigen Musik von Fatima Al Qadiri und Volksliedern. Dass die Begegnung der beiden Verliebten die letzte ist, weiss Suleiman, nicht aber Ada. «Du schaust aufs Meer hinaus», wirft sie ihm vor, nichts ahnend, dass dieses Meer ihn bald schon verschlingen wird. Denn er und einige Arbeiter haben beschlossen, übers Meer zu fahren und in Europa ihr Glück zu suchen. Doch die Piroge mit den Männern ist im Sturm wohl untergegangen. Die Frauen, Schwestern und Geliebten bleiben mit der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Liebsten zurück. Dann beginnen eigenartige Vorkommnisse die Stadt zu beschäftigen. Wenige Tage nach der Abreise der Jungen verwüstet ein Feuer das für die Hochzeit von Ada und Omar vorgesehene Haus, und junge Frauen in der Nachbarschaft befällt ein mysteriöses Fieber. Ada hat keine Ahnung, ob Suleiman zurückkehrt oder als Geist bereits unter ihnen weilt. Vieles im zweiten Teil des Films pendelt gekonnt zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Hexerei und Magie, zwischen Kriminal- und Gespensterfilm.

Die französische Regisseurin Mati Diop steht mit «Atlantique» als erste Frau afrikanischer Herkunft 2019 in Cannes im offiziellen Wettbewerb und gewinnt auf Anhieb den Grand Prix du Jury und anschliessend in Toronto auch noch den Prix Mary-Pickford du nouveau talent féminin.

Suleiman, der Ausgebeutete, der nach Europa will

Vier Anmerkungen

Das Meer: Ort der Sehnsucht und des Verderbens. Immer wieder schwenkt die Kamera aufs Meer. Einmal ist es stürmisch und bedrohlich, dann wieder lieblich und einladend. In seiner Grösse und Unendlichkeit war das Meer schon in früheren Kulturen Symbol für die Endlichkeit des Menschen und die Grenzen zwischen Leben und Tod. Im Film «Atlantique» bewegt sich der Alltag nicht im luftleeren Raum, sondern ist eingeschnürt in ein ausbeuterisches, neokolonialistisches System, wie es in vielen Ländern des Südens herrscht.

Ich bin dein Mann. Ich bin nicht deine Frau. Da die Handlung in einem fernen Land spielt, werden einem die exotischen Rituale der Heirat deutlicher bewusst als in ähnlichen Geschichten bei uns, obwohl sie im Grunde alle ähnlich oder gleich sind. Die Hochzeit erweist sich doch weltweit oft als Tauschhandel, weniger als Verbindung aus Liebe, von Religionen reglementiert, sanktioniert und zu einem heiligen Akt hochstilisiert, gelegentlich mit dem frauenverachtenden Brimborium der weiblichen Jungfräulichkeit dekoriert. Und so wird die weibliche Antwort, nicht seine Frau zu sein, auf die männliche Feststellung, ihr Mann zu sein, zu einem Akt der Emanzipation.

Das ewige Schicksal der Frauen und seine Überwindung: Die jungen Frauen sind Freundinnen, Geliebte, Partnerinnen oder Mütter, bis die jungen Männer in den Krieg ziehen, im Glauben, dort die Probleme ihres Lebens zu lösen, oder sie versuchen, was vor allem für den Süden gilt, übers Meer nach Europa fahren. Dann sind die Frauen allein, einsam, verwitwet. Dieses Schicksal scheint ihnen eingeimpft, solange es zum Mann-Sein gehört, mit Waffen zu kämpfen, oder wie hier, mit ihrer Flucht über das Meer sich, nicht aber die andern, zu retten.

Frauen finden zu sich: Die Frauen sind es, die den zurückgehaltenen Lohn der Männer vom Vertreter des senegalesischen Fabrikbesitzer N’Diaye erpressen. Sie fackeln dessen Hochhaus ab, wirklich oder bloss geträumt, ist nebensächlich. Denn was im zweiten Teil des Films passiert, bleibt offen: Ist es erlebt oder geträumt, erhofft oder befürchtet? Der Schluss weist ins Offene: «Es gibt Erinnerungen, die wie Prophezeiungen sind. Diese Nacht wird mich begleiten und daran erinnern, wer ich bin, und mich lehren, wer ich sein werde. Ich bin Ada, der die Zukunft gehört.»

 Das junge Paar in einem ihrer seltenen Glücksmomente

Aus einem Interview mit der Regisseurin Mati Diop

Was war der Ursprung des Projekts «Atlantique»?

Dieser Film ist eine Erweiterung meines Kurzfilms «Atlantiques». Da filmte ich Serigne, einen jungen Mann, der seinen Freunden von einer Reise übers Meer erzählt. Es ist die Ära «Barcelona oder der Tod», in der Tausende junger Menschen an der Küste ablegen, um in eine bessere Zukunft zu reisen. Viele starben auf See. Im Jahr 2012, kurz nach dem Arabischen Frühling, kam es in Dakar zu Unruhen und zu einem Aufstand, der angetrieben wurde von der «J’en ai marre»-Bewegung. Dieses Erwachen hat mich geprägt, weil es uns daran erinnert hat, dass die senegalesische Jugend nicht verschwunden war. Für mich gab es nicht die Toten des Meeres und die Jugendlichen in Bewegung. Die Lebenden trugen in sich die Verschollenen, die etwas von uns und von ihnen mitgenommen hatten, als sie gingen. Es war ein und dieselbe gemeinsame Geschichte.

«Atlantique» ist kein Spielfilm über politische und soziale Schlagzeilen, weil sie einen ganz fantastischen, poetischen und filmischen Ansatz haben.

In der Nacht, in der ich Serigne in «Atlantiques» gefilmt hatte, sagte er mir: «Wenn man sich entschieden hat, zu gehen, ist man schon tot.» Es ist wahr, dass zu dieser Zeit die Jungs, die ich kennenlernte, so wirkten, als wären sie nicht mehr da. Ihr Kopf, ihre Träume waren woanders. Ich hatte den Eindruck, dass es in Dakar eine geisterhafte Atmosphäre gab, und es wurde unmöglich, das Meer zu betrachten, ohne an diese Dinge zu denken und an die jungen Menschen, die dort verschwunden waren. Für mich ist das Drehen eines Films nicht nur das Erzählen einer Geschichte. Ich wollte einen Geisterfilm schreiben, und die Wahl des Genres ist die der fantastischen Dimension, die der Realität innewohnt, die ich beobachtet habe, vielleicht auch nur fantasiert.

Der Film hat eine sehr feminine Dimension.

Adas Charakter bewegt sich von einer Phase ihres Lebens in eine andere. Vom Teenager zur Frau. Was bedeutet das, Frau werden? Die Antworten variieren je nach Kultur und Mode. Für mich geht es in erster Linie darum, du selbst zu werden, dein Leben zu wählen. Ein erster Film ist oft autobiografisch, auch indirekt. «Atlantique» erzählt die Geschichte eines Mädchens, das nach der Abfahrt desjenigen, den sie liebt, vor einer arrangierten Ehe mit einem eingewanderten Mann steht, den sie nicht begehrt aber annehmen muss, um dem Wunsch der Familie zu genügen. Es ist die Rückkehr von Suleiman und seine Zerstörung der Hochzeit, die Ada eine echte zweite Chance gibt. Ein Erwachen, ein zweiter Windstoss. Im Moment, da sie begreift, dass Suleiman tot ist, erwacht in ihr eine neue Dimension, die Erkenntnis, dass sie sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren muss. Die Freundschaft zwischen Frauen nimmt einen wichtigen Platz ein im Film.

Die Kombination aus sozialen Fragen und Fantasie wird von den Frauen verkörpert, die von den Geistern ihrer Liebhaber, Ehemänner oder auf See verlorenen Brüder verfolgt werden.

Es ist ein Film darüber, von Geistern heimgesucht und gebannt zu werden und über die Vorstellung, dass Geister in uns drin entstehen. Im Film kehren die Geister der Jungen, die auf See gestorben sind, zurück und besitzen Frauen, weil sie keine Gräber haben, vor allem aber, weil sie keinen Frieden finden werden, bis ihnen das Geld, das man ihnen schuldet, zurückgegeben wird. Ich fand es schön, dass ihr Kampf durch die Körper derjenigen stattfand, die sie liebten, aber vor allem durch die Körper der Frauen, die auch ihre eigenen Kämpfe führen. So gibt es eine Verschmelzung von Körpern und Kämpfen.

Titelbild: Ada, die Liebende, die zur Rebellin wird

Regie: Mati Diop, Produktion: 2019, Länge: 89 min, Verleih: trigon-film

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