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Urgrossmutters Fernweh

Eine ungewöhnliche Auswanderergeschichte erzählt der junge Berner Historiker Benedikt Meyer in seinem ersten Roman «Nach Ohio. Auf den Spuren der Wäscherin Stephanie Cordelier».

Auswandern war im 19. Jahrhundert nichts Ungewöhnliches. Armut, Hungersnöte, Ernteausfälle zwangen viele Schweizerinnen und Schweizer, einzelne oder ganze Familien, ihr Auskommen jenseits des Atlantiks zu suchen. Die junge Stephanie Cordelier wanderte 1891 freiwillig aus. Ihre Familie lebte in einfachen Verhältnissen in Oberwil BL, der Vater vertrank viel von dem, was er als Maler verdiente, die Mutter arbeitete hart als Wäscherin und war froh, dass ihre älteste Tochter Stephanie sie bei dieser Arbeit und bei der Sorge für die jüngeren Geschwistern unterstützte.

Mädchen sind als Haushalthilfen unverzichtbar

Mutter Martina stammte aus einer süddeutschen Familie, in der die jungen Männer Priester wurden und ihre Schwestern den Pfarrhaushalt führten. So war zuerst Gabriel in die Schweiz berufen worden und hatte Martina zu sich geholt. Nach Martinas Heirat, der Geburt von Stephanie und ihrem Wegzug nach Oberwil und schliesslich nach konfessionellen Wirren in der Gemeinde zog Onkel Gabriel nach Amerika, nach Ohio. Auch dorthin folgte eine Schwester für den Haushalt. Durch Briefe blieb die Familie in Kontakt. Dadurch erwachte Stephanies Interesse an Amerika. Als sie ungefähr 16 war, fehlte dem Onkel wieder einmal eine Haushälterin. Aber die Eltern erklärten, Stephanies Hilfe zu Hause sei unabdingbar, eine Reise nach Amerika käme gar nicht in Frage.

Fernweh lässt sich nicht bändigen

Die unauslöschliche Sehnsucht, in die Ferne zu reisen, hatte sich jedoch in dem jungen Mädchen festgesetzt. Zwei Jahre später erhielt sie wiederum eine Einladung von ihren Verwandten in Ohio, sogar mit dem Angebot, die Fahrkarte zu bezahlen. Nun mussten die Eltern nachgeben. 1891 konnte die 19-jährige auswandern. Es war, wie der Autor schreibt, «weder Armuts- noch Hunger-, sondern Wirtschafts- und Abenteuermigration. Ihre Aussichten waren in Amerika besser.»

Benedikt Meyer verknüpft seine Erzählung über Stephanies Leben mit seinen eigenen Erfahrungen. Zum einem berichtet er, wie er zu den spärlichen Dokumenten über seine Urgrossmutter kommt und was er aus Erzählungen erschliessen kann. Daneben webt er seine eigenen Reiseerfahrungen hinein. Denn, wenn er nicht selbst in Ohio Recherchen anstellte, kam er mit Stephanies Geschichte nicht weiter. So stellt er nun Stephanies Reise über den Atlantik seine eigene Überfahrt auf einem Containerschiff im 21. Jahrhundert gegenüber – ein interessanter Kontrast.

Westernland – das Schiff, mit dem Stephanie im September 1891 nach New York fuhr

Der Autor hatte für seine geplante Durchquerung der Vereinigten Staaten sein Fahrrad mitgenommen. Stephanie reiste mit dem Zug von New York nach Ohio und hatte Glück. Ihre Verwandten wussten eine gute Stelle für sie: Haushälterin in der grossen Familie Berchtold in Defiance, dem Doktor des kleinen Städtchens. Wie wir uns das Leben dort vorstellen können, erkundet Benedikt Meyer 2013 vor Ort, vor allem in der Bibliothek wird er fündig. Nachkommen der Berchtolds, die sich an Stephanie erinnern, spürt er später in der Schweiz auf.

Alltag in Ohio Ende des 19. Jahrhunderts

Stephanie erlebt viel, lernt viel, muss auch mit Enttäuschungen fertig werden. Durch eine Wirtschaftskrise und den plötzlichen Tod von Doktor Berchtold muss sie sich neu orientieren. Sie wird Haushälterin bei einem weiteren ihrer Priester-Onkel, der eine schmucke Kirche erbaut hatte, später bei einem anderen älteren Pfarrer. Nach fünf Jahren und nachdem die junge Frau etwas Geld gespart hat, beschliesst sie, in die Schweiz zurückzukehren. Ob es für immer sein soll, bleibt vorerst offen.

Wir lesen, wie sie heimkehrt und dort gleich mit einem grossen Schmerz konfrontiert wird; wir lesen, wie sie sich langsam wieder eingewöhnt; wie sie es erreicht, selbständig zu werden: Sie kann in Basel eine kleine Wäscherei übernehmen – noch lange blieb das Waschen eine Handarbeit für Frauen. Wir lesen, wie sie schliesslich Albrecht Meyer kennenlernt, den sie heiratet, obwohl er Protestant ist, was für sie als Katholikin damals bedeutete, dass sie von der Messe ausgeschlossen wurde.

Benedikt Meyer (Foto mit Genehmigung des Autors)

Der Autor erzählt in geraffter Form, wie seine Fahrradtour bis an den Pazifik verlief, von seiner schier endlosen Fahrt auf stets geraden Strassen, von seiner Erschöpfung. «Stephanies Zustand war möglicherweise ein ähnlicher, . . . genauso anstrengend und ähnlich einfach . . . es gab nur einen Weg . . . immer der Strasse entlang.»

Benedikt Meyer wurde 1982 geboren. Er studierte Geschichte, Psychologie und Wirtschaft in Basel, Bern und Bordeaux, forschte zur Geschichte des Fahrradfahrens und doktorierte zur Swissair. Er ist freier Historiker und schreibt für Zeitungen und Zeitschriften.

Er nimmt auch an Science Slams teil, das sind wissenschaftliche Kurzvortragswettbewerbe, in denen Vortragende 10 Minuten Zeit erhalten, um ein Forschungsthema vorzustellen.

Der Reiz dieses Buches besteht in der Verknüpfung beider Leben und Erfahrungen. Von Anfang an nennt der Autor das Motiv seines Schreibens: Die Lebenszeugnisse seiner Urgrossmutter, zuerst eine Tonbandkassette aus dem Jahre 1964, haben ihn berührt und zu seinen Nachforschungen getrieben. Der Lebenslauf einer Stephanie Meyer geb. Cordelier ist weder selbstverständlich noch ganz ungewöhnlich – ohne das Selbstvertrauen der jungen Frau wäre er nicht möglich gewesen.

Wir erkennen in charakteristischen Bildern, wie grundlegend sich Alltag und Gesellschaft in den letzten 130 Jahren verändert haben. – Der Roman stützt sich auf alles, was der Autor an Dokumenten, Erzählungen oder historischen Ereignissen recherchiert hat. Es ist eine kurzweilige Lektüre, nur die vielen Personen, Tanten, Grossonkel u.a. auseinanderzuhalten, fiel der Schreibenden nicht leicht.

Benedikt Meyer:  Nach Ohio. Auf den Spuren der Wäscherin Stephanie Cordelier.
Zytglogge Verlag Bern 2019. 219 Seiten,
15 Abbildungen.
ISBN: 978-3-7296-5006-0

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