Oberflächlich kennt ihn die ganze Welt, vertieft erzählt das Leben des französischen Geistlichen Henri Grouès der Dokumentarspielfilm «L’ Abbé Pierre – Une vie de combats» von Frédéric Tellier, der berührt, aufwühlt, nachdenklich macht.
Henri Grouès, der richtige Name von Abbé Pierre, der in eine wohlhabende Familie hineingeboren wurde, war Widerstandskämpfer, Abgeordneter, Revolutionär und Verteidiger der Obdachlosen. Sein Sitzen in der Nationalversammlung, sein Zupacken in den Slums der Pariser Banlieue und sein umfassendes Engagement für die Ärmsten der Armen hat ihm internationalen Ruhm eingebracht. Die Gründung von Emmaus und die Aktionen als Antwort auf seinen Appel im Winter 1954 haben ihn zu einer Ikone gemacht. Dennoch zweifelte er selbst, besonders gegen Ende des Lebens, an seinem Handeln. Seine Schwächen, seine Leiden, sein kaum vorhandenes Privatleben blieben der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Er empörte sich lautstark über Elend und Ungerechtigkeiten, wurde aber auch kritisiert und gelegentlich verraten. Er hat als Abbé Pierre tausend Leben gelebt, tausend Kämpfe gekämpft und die Sozialgeschichte von Paris, von Frankreich und weiteren Ländern mitgestaltet.
Abbé Pierre (l), Lucie Goutaz (r)
Der Lebenslauf
Eigentlich war Henri Grouès (im Film Benjamin Lavernhe) entschlossen, katholischer Priester zu werden. Aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung musste er aber auf das karge Mönchsleben als Kapuziner verzichten. Bescheiden lebte er dennoch lebenslang. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ändert er seien Pläne und schliesst sich dem Widerstand an. Tief geprägt von seinen Erfahrungen und dem Verlust eines Freundes auf dem Schlachtfeld, folgt er nach Kriegsende seiner Berufung. Für ihn wird es zu einer Herzensangelegenheit, den Armen zu helfen. Gemeinsam mit Lucie Coutaz (im Film Emmanuelle Bercot), die selbst aus armen Verhältnissen stammt, widmet er sein Leben den Bedürftigen, um ihnen eine Alternative zur Strasse anzubieten. Dafür ist er bereit, sich selbst mit den Mächtigsten anzulegen. Abbé Pierre dient ihm im besetzten Frankreich als Deckname gegen das Naziregime. So gelingt es ihm, jüdische Menschen und andere politisch Verfolgte über die Grenze in die Schweiz zu schmuggeln. Widerstand und Kampf prägten sein Leben. «L’ Abbé Pierre – Une vie de combats» folgt chronologisch dem Weg des streitbaren Mannes, der während dreissig Jahren auf der Liste der beliebtesten Franzosen stand. Nach dem Krieg wird er Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung. 1949 gründet er die Bewegung Emmaus, die sich in Paris um Arme und Obdachlose kümmert. 1969 wird die Organisation international und ist heute auf vier Kontinenten vertreten.
Auf den Strassen von Paris
Zur Vorgeschichte des Films
Auch schon in früheren Filmen «fragte ich mich immer wieder nach dem Sinn des Bösen, der Kraft des Lebens und was Solidarität bewirken kann.» Mit diesen Fragen im Kopf und im Herzen erzählt Frédéric Tellier die Biografie von Abbé Pierre. Der Film ist grossartig inszeniert, von zwei exzellenten Protagonisten gespielt und von zahllosen Statisten mitgetragen. Bei allen Menschen, so erlebt der Filmemacher seinen Protagonisten, die bei diesem charismatischen Priester mit Bart und Béret anklopften, gab es nur drei Fragen: «Hast du Hunger? Bis du müde? Möchtest du dich waschen?» und die Antwort: «Komm, wir haben auf dich gewartet.» Der Film erzählt die Geschichte eines mutigen Mannes und einer klugen Begleiterin im Hintergrund, die ihre Mission für die Ärmsten der Gesellschaft während seines langen Lebens nie aus den Augen verloren haben.
Lucie Coutaz
Bevor er an das Drehbuch ging, las er alles, was über den Abbé zu finden war. Doch was er bekam, waren mehr oder weniger schöne Hagiographien; solche gab es zur Genüge auf dem Buchmarkt. Was ihm fehlte, war die gut recherchierte Sicht auf das Innere, die Beweggründe und die Schwierigkeiten der Figur, die er zu beschreiben hatte. Was er suchte, war ein realistisches Porträt, keine Ikone. Nach langer Zeit des Suchens stiess er eines Tages auf Laurent Desmard, der 15 Jahre lang persönlicher Referent von Abbé Pierre und Präsident der Fondation war. Dieser erzählte ihm Beobachtungen, die er bisher noch niemandem anvertraut hatte. So lernte der Filmemacher den intimen Menschen kennen: seine familiären Hintergründe, seine Arbeitsweise, seine Misserfolge und Zweifel, seine Wanderschaft, im Krieg und im Widerstand, seine Begegnung mit Lucie Coutaz und seinen Weg bis zum Sterben. Langsam entstand im Drehbuch der wahre Abbé Pierre, nicht sein Phantom.
Der Medienstar
Benjamin Lavernhe von der Académie Française bekam die Aufgabe, die Ikone in einen lebendigen Menschen zu verwandeln. Eine überraschende Wahl, da man den Schauspieler in erster Linie als Komödianten kennt. Die neue Rolle bietet ihm Gelegenheit, auch seine dramatische Seite zu zeigen. Grossartig ist neben seinem differenzierten Spiel auch die Maske, die ihn im Laufe der Geschichte bis zu seinem 94. Jahr altern liess. Eine adäquate Begleiterin und Vertraute war Emmanuelle Bercot mit ihrer tiefen Menschlichkeit und im Hintergrund wirkende Lucie Coutaz. Respekt verdienen auch die vielfältigen, nie selbstzweckhaften realistischen Locations.
Tellier schreibt seine Drehbücher nicht gerne allein, nahm deshalb mit Olivier Gorce Kontakt auf, mit dem er schon früher zusammengearbeitet hatte. Dieser hatte ein Buch über Abbé Pierre geschrieben und bei einem ähnlichen sozialkritischen Thema für Stéphane Brizé als Drehbuchautor von «En Guerre» gearbeitet.
Gelebte Gemeinschaft
Appell für eine gerechtere Gesellschaft
Im zweiten Teil des Films folgen, gebündelt, was über die ganze Zeit verstreut war, seine leidenschaftlichen Appelle für eine gerechterer Gesellschaft, im dritten Teil dann persönliche Fragen, die aufwühlen – weil wir sie auch aus unserer aktuellen Situation kennen und nicht beantworten können.
«Die ersten Gewalttätigen, die Provokateure jeglicher Gewalt sind sie, die Reichen! Sie haben die Pflicht, sich zu engagieren, denn Wohlstand muss in Notzeiten geteilt werden! Lösen wir uns aus der erdrückenden Benommenheit! Schreiten wir zur Tat! Unsere Regierungen haben uns nicht zu sagen, wie wir Solidarität zeigen sollen. Wir müssen ihnen zeigen, was für eine Gesellschaft wir wollen!»
«Mein Gott, warum existieren die Menschen? Konnte ich meinem Leben auf der Erde einen Sinn geben?» Ein Freund zu ihm: «Du bist gescheitert, Henri. Du hast den Menschen nicht geändert, du hast ihn nicht glücklicher gemacht. Doch du hast viel mehr getan. Du hast ihn geliebt, so wie er ist, mit seinen Schwächen und Qualen, seiner Zerbrechlichkeit und Unvollkommenheit.»
«Nun steht mein grosser Urlaub an. Seid nicht traurig, vergesst nie, dass wir zwei Augen haben: eins für das Gute, eines für das Schlechte.»
Regie: Frédéric Tellier, Produktion: 2023, Länge: 138 min, Verleih: VMH
Titelbild: Henri Grouès alias Abbé Pierre