Auch der gesunde Menschenverstand braucht Vorsorge und Pflege. Wie man sich gegen täuschende Statistiken wappnet, zeigt der Mathematiker Peter Gritzmann in seinem Buch «Plausibel, logisch, falsch».
Wirkt eine Statistik unglaubwürdig, ist Misstrauen angesagt. Aber manchmal liegt keine Manipulation vor, sondern eine Tücke der Mathematik, und die Statistik lügt tatsächlich nicht. So auch hier: Frühe Zahlen aus der Covid-19-Pandemie zeigten, dass in jeder Altersgruppe in China ein höherer Prozentsatz der Erkrankten starb als in Italien – und doch starb in Italien insgesamt ein höherer Anteil der Erkrankten als in China.
Der pensionierte deutsche Mathematikprofessor Peter Gritzmann erwähnt diesen Befund nur. Die entsprechende Analyse, weshalb der vermeintliche Widerspruch in der Statistik keiner ist, liefert er anhand eines fiktiven Sportfests. Die Teams Rot und Blau traten in den zwei Kategorien A und B an, zu holen gab es Ehrenmeldungen für gute Leistungen. Bei den «roten» Mädchen schaffte in beiden Gruppen ein höherer Anteil des Teams die Limite – und doch schwangen insgesamt die «blauen» obenaus. In der Tabelle im Buch sieht man auch, weshalb: In der Kategorie A war es offenbar leichter, eine Ehrenmeldung zu holen, und Team Blau hatte hier viel mehr Teilnehmerinnen.
Aus dem besprochenen Buch
Gritzmann präsentiert seine Beispiele mit anschaulich erzählten Geschichten, hier mit der anfänglichen Empörung der «roten» Vereinspräsidentin darüber, dass «ihre» Mädchen mit 30 zu 45 Prozent (Ehrenmeldungen) verloren hatten, trotz in jeder Gruppe besserer Erfolgsquote (A 60:50%, B 24:20%). Manchmal verwendet er Grafiken; in diesem Fall ist allerdings eine andere klarer, die den echten Covid-Befund aus China und Italien zeigt (im Internet greifbar; in Italien waren die Betroffenen durchschnittlich älter und damit stärker gefährdet).
Gefährliche Verstärker
Der Professor warnt, auch mit vielen weiteren Beispielen: «Der gesunde Menschenverstand ist weit beschränkter und weit anfälliger für Täuschungen, als uns bewusst und sicherlich als uns lieb ist.» Es können quasi eingebaute Täuschungen sein wie bei der genannten Covid-Statistik. Oft sind es aber auch Halbwahrheiten wie die Auswahl eines Bild- oder Statistikausschnitts, um einen politisch oder kommerziell gewünschten Effekt zu «beweisen»; ein anderer Ausschnitt würde einen abweichenden, womöglich gegenteiligen Eindruck erwecken.
Verstärkt werden falsche Eindrücke dann, wenn sie einer Erwartung entsprechen: «Menschen neigen ständig dazu, Indizien dafür zu suchen, dass ihre vorgefassten Meinungen zutreffen, ob sie nun stimmen oder nicht. Hierdurch vertiefen sich Vorurteile, und es wird immer schwieriger, sie wieder abzubauen. Durch die Algorithmen der sogenannten sozialen Medien, deren Vorschläge auf Ihrer ‹Like›-Historie beruhen, kann dieser Effekt zudem noch massiv verstärkt werden. Die vormals ‹nachbarschaftliche Bubble› bekommt so eine globale Dimension.» Noch schlimmer wird dieser Effekt, «da viele Verfahren der immer stärker um sich greifenden künstlichen Intelligenz auch aus unseren Vorurteilen ‹lernen› und sie damit in scheinbar objektive, aber letztlich völlig undurchsichtige Entscheidungsfindungen überführen».
Aber auch wer selber denkt, lebt gefährlich: «Allzu leicht fallen wir in sogenannte ‹Rationalitätsfallen›, bei denen das aus individueller Sicht durchaus rationale Verhalten zu einem schlechteren Gesamtergebnis führt.» Der Autor zeigt das zunächst theoretisch am berühmten «Gefangenendilemma» mit separat einvernommenen Komplizen: Je nachdem, wie der andere aussagt, lohnt sich ein Geständnis oder nicht. Hätten sie die Übersicht, führen sie besser – und das gilt auch in Freiheit, wenn es etwa ums Vermeiden von Verkehrsstaus geht.
Den Eigennutz steuern
Es geht noch um weit mehr: «Viel existentieller wird es, wenn Sie daran denken, dass das Überfischen von Meeresabschnitten, die Einhaltung von zuvor sogar vertraglich vereinbarten Rüstungsbeschränkungen, ja selbst eine Vielzahl von Klimasünden dem gleichen Prinzip unterworfen sind. Das schreit geradezu nach klugen Änderungen der ‹Spielregeln›, die das egoistische Verhalten unattraktiv ‹teurer› machen und damit dem kooperativen Verhalten mehr Stabilität verleihen.» Der Logik des Satzbaus haben Sie wahrscheinlich beim Lesen unbewusst nachgeholfen und verstanden, dass der letzte Teil des Zitats nicht die bestehenden «Spielregeln» beschreibt, sondern die nötigen Änderungen.
Mathematische Fallstricke sind für Laien meist schwieriger zu erkennen als sprachliche. Der Autor führt durch Wahl- und Lohnsysteme, Finanz- und Meinungsmärkte und endet mit Ermahnungen: «Es fällt viel leichter, ‹Fehler› anderer zu skandalisieren, wenn diese einer anderen Gruppe angehören. (…) Es ist also dringend nötig, sich wenigstens im Stillen immer wieder mal in die Position des anderen, eines ‹Gegners› oder gar ‹Feindes› hineinzuversetzen. Es ist erstaunlich, was man dann über sich selbst und seine Überzeugungen erfährt. Lassen Sie sich auch nicht von vermeintlichen Autoritäten, Formeln oder ‹Wissenschaftssprech› einschüchtern oder beeindrucken, sondern bleiben Sie kritisch. (…) Nur Mut also, fragen Sie einfach nach dem ‹Warum›. Die hieran erkennbare Unsicherheit, nicht schon immer im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein, zeichnet denkende Menschen in Kulturnationen aus.»
Es ist oft anstrengend, Gritzmann zu folgen – im Buch und im Leben gemäss seinem Rat. Doch was gibt es in unseren unsicheren Zeiten Besseres, als sich auf die Werte der Aufklärung zu besinnen?
Gritzmann, Peter: Plausibel, logisch, falsch. Auf den Holzwegen des gesunden Menschenverstandes. C. H. Beck 2024. 217 S., ca. Fr. 30.– (Leseprobe)
Dazu passend: SRF-Sternstunde Philosophie mit Daniel Kahnemann über die Tücken der Intuition
Wegweiser zu Intelligenzen
Wer über Intelligenz nachdenkt und sich dabei wie in einem Dickicht vorkommt, ist mit einem Blick in den «elektronischen Spiegel» gut bedient: mit dem Buch von Manuela Lenzen, das so heisst, aber auch mit der Forschung an künstlichen Intelligenzen, die es beschreibt. Denn bei dieser Forschung geht es auch um das Wesen der – nicht nur bei Menschen – vorhandenen natürlichen Formen von Intelligenz. Allein schon dafür ist die Mehrzahl «Intelligenzen» angebracht. Die Forschung daran, sie künstlich zu vermehren, führt auch zu neuen Erkenntnissen über Intelligenzen in Lebewesen. Die Wissenschaftsjournalistin Lenzen erschliesst das weite Feld umsichtig und gut verständlich. Ihr Schlusskapitel betitelt sie mit einem Zitat: «Alle Modelle sind falsch – aber manche sind nützlich.» Offen bleibt dabei, ob Gehirne, auch die menschlichen, mit komplexen Rechenvorgängen ganz erklärt und daher im Prinzip nachgebaut (und verbessert) werden können – und sollen. (dg)
Lenzen, Manuela: Der elektronische Spiegel. Menschliches Denken und künstliche Intelligenz. C. H. Beck 2023. 270 S., ca. Fr. 25.– (Leseprobe)
Das beschriebene statistische Phänomen ist auch als Simpson-Paradox bekannt.
Sehr guter Artikel, der heute aktueller ist denn je.
Schon im Altertum wurden Zahlen so frisiert, dass sie ihrem Autor (Pharao u. dgl.) dienten.
Was die katholische Kirche über Juden, Muslims, Byzantiner, Protestanten und schwarzafrikanische Religionen zusammenfaselte ist bekannt.
Die meisten glaubten dieses Zeug (was ihnen bei den damaligen Informationsmöglichkeiten kaum zu verargen war) oder landeten auf dem Scheiterhaufen.
Heute haben wir (zumindest in der westlichen Welt) ungeahnte Info-Möglichkeiten. Analphabetismus, 60 Stundenwoche, Zensur, etc. sind längst vorbei. Jeder hat die Zeit und die Möglichkeit, sich selbst zu informieren, sich eine unabhängige Meinung zu bilden und diese auf allen Medien, sowie bei Abstimmungen und Wahlen auch kund zu tun.
Ist es deshalb besser geworden?
Wahrscheinlich sind noch nie so viel Fake News wie heute gestreut worden, auf wissenschaftliche Art erarbeitet durch Armeen von Trollen, die die Schwächen und Neigungen ihrer Zielgruppen analysieren und darauf aufbauend «Meinungen» produzieren, die das grösstmögliche Potential haben, ganze Bevölkerungsgruppen und Staaten zu destabilisieren und ins Verderben zu führen.
Hinzu kommt, dass sich nicht bloss amerikanische Präsidentschaftskandidaten, sondern auch Schweizer Politiker je länger desto mehr getrauen, dem ahnungslosen Stimmbürger brandschwarze Lügen aufzutischen, wie etwa vor der AHV-Renten-Abstimmung. Hier wurde nicht bloss mit optisch zurecht gebogenen aber an sich richtigen Statistiken oder arbiträr gewählten Bezugsgrössen (alte Tricks!) gearbeitet, sondern mit rundweg falschen Zahlen.
Der zweitletzte Absatz im Beitrag von Goldstein sagt mit aller Deutlichkeit, was wir zu tun haben. Tun wir es!
Das Wort «arbiträr» war mir neu, es heisst willkürlich, und genau so muss das Abstimmungsergebnis über die 13. AHV-Rente verstanden werden, nach dem Willen der Mehrheit der Abstimmenden. Der Wille eines Menschen beinhaltet immer auch Gefühle, Hintergründe und die aktuelle Situation. Eine Willensbekundung kann nicht auf Zahlen reduziert werden. Eine Horizonterweiterung hilft, besser und in Gesamtzusammenhängen zu denken und zu verstehen.