StartseiteMagazinKulturEin Feuerwerk der Kreativität

Ein Feuerwerk der Kreativität

«René Burri: Explosion des Sehens» heisst die gegenwärtige Ausstellung des Musée de l’Elysée in Lausanne. Sie ist aus der jahrelangen Aufarbeitung des umfangreichen Archivs des Zürcher Fotografen entstanden.

Es begann im Jahre 2013, als René Burri sein Archiv, für dessen Erhalt er eine Stiftung gegründet hatte, dem Museum für Fotografie in Lausanne übergab. In diesem Jahr feierte Burri seinen 80. Geburtstag – im Schlösschen Elysée und seinem wunderschönen Park fand zu seinen Ehren ein rauschendes Fest statt. Im Jahr darauf starb Burri in Zürich.

Seit Beginn war die Kuratorin der gegenwärtigen Ausstellung Mélanie Bétrisey mit der Arbeit an Burris Archiv betraut, wahrlich eine gewaltige Aufgabe, denn die Sammlung umfasst mehrere Hunderttausende von Objekten. Burri bewahrte alle Zeugnisse seines Lebens, seiner Arbeit und seiner unzähligen Reisen sorgfältig auf. Das veranlasste die beiden Kuratoren, Marc Donnadieu und Frau Bétrisey, die Ausstellung als Gang durch das Leben von René Burri zu konzipieren; durch zwölf thematische Schwerpunkte erhält dieser Weg gleichsam eine Vertikale inhaltlicher Vertiefung.

Das Ziel dieser Ausstellung besteht darin, die Vielseitigkeit in René Burris kreativer Arbeit im Laufe seines Lebens darzustellen. Es werden viele bisher unbekannte Zeugnisse seines Schaffens gezeigt, Filme, Buchentwürfe, Ausstellungsprojekte, Notizhefte, Collagen, Aquarelle und Zeichnungen. Damit tritt eine verborgene, bisher nur für Private sichtbare Seite zutage – Burri war mehr als «nur» Fotograf.

René Burri, Nantes – Paris TGV, 1994, Carnet de dessins © René Burri / Magnum Photos. Fondation René Burri, courtesy Musée de l’Elysée, Lausanne

Sie habe selbst gestaunt, erzählt Mélanie Bétrisey, als René Burri ihr 2013 als erstes eine grosse Anzahl Filmrollen übergab. Allein in der Sammlung von Magnum Photos befanden sich 24 Filme von ihm. René Burri war nämlich seit Jugend vom Film begeistert. Am Filmfestival von Locarno hatte er jedes Jahr seinen reservierten Platz. Als junger Mann konnte er allerdings 1949 das Fach Film an der Kunstgewerbeschule (heute Zürcher Hochschule der Künste) noch gar nicht belegen. So studierte er Fotografie und daneben Zeichnen und graphische Gestaltung, unter anderem bei Johannes Itten. Einer seiner ersten Aufträge nach seiner Ausbildung war eine Kamera-Assistenz bei Disney World.

Seit Kindheit hatte Burri stets gern gezeichnet. Zu Schulzeiten meinten seine Lehrer, er solle Maler werden. Seine Begabungen werden an verschiedenen Orten dieser Schau präsentiert, Burri hat das Zeichnen nie aufgegeben, aber auch Bücher gestaltet. Marc Donnadieu erwähnt, dass Burri stets alles Material mit sich führte, das er für kleine Skizzen benötigte, inklusive Farbkasten und Schere für Collagen.

René Burri, Fleurs de lotus séchées sur lac de Kunming, palais d’été de Pékin, Chine, 1964 © René Burri / Magnum Photos. Fondation René Burri, courtesy Musée de l’Elysée, Lausanne

Als Fotograf kam der Junge 1946 zum ersten Mal zum Zug: Der 13-jährige begleitete seinen Vater, als Winston Churchill in die Schweiz kam und seine berühmte Europa-Rede hielt. Vater Burri gab seinem Sohn die Kamera, und so entstand das erste Foto des späteren Reporters: Churchill im Auto auf der Fahrt durch Zürich. – Abgesehen von einigen grossformatigen Bildern, die einem Thema gelten, legt die Ausstellung ihren Schwerpunkt nicht auf die Vielzahl grosser Fotografien. Sie zeigt neben den unzähligen Zeugnissen seiner Reisen und Arbeiten eine ganze Reihe von Filmstreifen im damaligen kleinen Format, die den Schaffensprozess dokumentieren.


René Burri, El Che, après 2005, Reproduction peinte sur carton d’invitation de la Rétrospective 2005-2010 à Rotterdam © René Burri / Magnum Photos. Fondation René Burri, courtesy Musée de l’Elysée, Lausanne

Am Foto von Che Guevara «El Che» kommt man auch im Musée de l’Elysée nicht vorbei. Das berühmteste seiner Bilder hängt aber «nur» in einer Bearbeitung an der Wand, dafür sieht man andere der über hundert entstandenen Bilder. Auf Initiative der amerikanischen Journalistin Laura Bergquist reiste Burri anfangs 1963 sehr kurzfristig nach Kuba. Während Bergquist und Guevara stundenlang miteinander diskutierten, hatte der Fotoreporter freie Hand – denn Che hatte nur Augen für seine Interviewerin. Burris Fotos erlangten später Weltruhm, denn sie sind als einzige keine «offiziellen» Fotos.

René Burri, Brasilia, Brésil, 1960 © René Burri / Magnum Photos. Fondation René Burri, courtesy Musée de l’Elysée, Lausanne

René Burri war an allen wichtigen Schauplätzen der Weltgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsent. Ein wenig bekanntes Detail erfahren wir von Marc Donnadieu: Burri musste für seine Arbeit ständig fliegen – aber litt unter Flugangst. Um diese zu überlisten, zog er im Flugzeug seine Malutensilien hervor, das lenkte ihn ab und gab ihm durch die Konzentration einen Moment innere Ruhe.

Mehrere Male reiste er nach China und fotografierte dort an vielen Orten. Damals waren noch «richtige» Landkarten im Gebrauch, auf einer grossen Chinakarte sehen wir die von Hand nachgezeichnete Reiseroute. Auf dem Weg zum Geburtshaus von Mao Tse-tung konnte Burri wenig besuchte Teile Chinas fotografieren, Landesteile, wo das Leben noch nicht vom «Grossen Sprung» des Kommunismus geprägt war. 1965 drehte er seinen noch heute beachtenswerten Dokumentarfilm The Two Faces of China, der in der Ausstellung zu sehen ist.

René Burri, Juf, Suisse, 1967 © René Burri / Magnum Photos. Fondation René Burri, courtesy Musée de l’Elysée, Lausanne

Der Themenschwerpunkt Strukturen bringt uns Burris Umgang mit den handwerklichen und künstlerischen Möglichkeiten der Fotografie nahe. Er arbeitet beispielsweise mit verschiedenen Bildebenen; oder, wie auf dem Foto aus Brasilia, wir erkennen, wie viel Wert der Fotograf auf Linien, auf die Gliederung legt, einem Grafiker vergleichbar. Ein weiteres Stilmittel ist die Unschärfe im Vordergrund: Burri fotografiert Juf, das höchstgelegene Dorf Europas. Die unscharfe Blüte lenkt den Blick auf das Dorf im Hintergrund. So hebt er das Klischee des pittoresken Heimatbildes auf.

René Burri, Xerox, Los Angeles, États-Unis, 1971 © René Burri / Magnum Photos. Fondation René Burri, courtesy Musée de l’Elysée, Lausanne

Ein Fotograf, der unzählige Persönlichkeiten kennengelernt und abgelichtet hat, verdient auch den Fokus Moi et les autres: Schon seit jungen Jahren ist Burri Mitglied der Gruppe Magnum und bei den jährlichen Treffen ist er es, der jeweils ein «Familienfoto» anfertigt, manchmal werden fehlende Mitglieder als Fotomontage eingefügt. Auch wer ihn nicht persönlich kennengelernt hat, muss aus allen Zeugnissen schliessen, dass Burri ein leutseliger Mensch im besten Sinne des Wortes war. – Auch für Selfies, die erst gegen Ende seines Lebens Mode wurden, hatte er durchaus Sinn – und an Selbstironie schien es ihm nicht zu mangeln. Aus dem Selbstportrait spürt man, wieviel Energie und Präsenz René Burri ausstrahlte.

Zum Tode von René Burri 2014 schrieb Josef Ritler einen Nachruf.

Die Ausstellung im Musée de l’Elysée Lausanne ist noch bis 3. Mai 2020 geöffnet – Eintritt frei.

Empfehlenswert ist die gehaltvolle Publikation zur Ausstellung:
René Burri. Explosion des Sehens.
Mit Beiträgen von Mélanie Bétrisey, Daniel Bischof, Clara Bouveresse, Marc Donnadieu, Julie Enckell Julliard, Tatyana Franck, Werner Jeker, Hans-Michael Koetzle und Bernard Plossu.
Les Éditions Noir sur Blanc – Collection du Musée de l’Elysée. In Zusammenarbeit mit Scheidegger & Spiess, Zürich, für die englische und deutsche Ausgabe.
ISBN 978-3-85881-661-0

Das Cover des Katalogs zeigt René Burris erste Fotocollage, entstanden während seines Studiums an der Kunstgewerbeschule Zürich: Die Komödiantin Miriam Spörri, Schwester von Daniel Spörri, im Bühnenstudio ZH; 1951

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