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Die Flügel der Erica Pedretti

In wenigen Tagen feiert Erica Pedretti ihren 90. Geburtstag. Gefeiert wird sie als Künstlerin in ihrer zweiten Heimat Graubünden: Das Kunstmuseum Chur präsentiert ihr Werk – endlich – in einer grossen Einzelausstellung.

Fremd genug – so der Ausstellungstitel – schweben und fliegen oder stehen und liegen filigrane und überdimensionierte Flug- und Standobjekte in dem grossen weissen Ausstellungsraum, der dank einer künstlerisch formulierten Szenografie auch das feinste Werk in all seiner Schönheit leben lässt.

Saalaufnahme mit Doppelflügel, 1981. Foto: Katalin Deér © Pro Litteris, Zürich

Fremd genug heisst ein literarisch-autobiografisches Buch von Erica Pedretti, in dem sie über Heimat, Emigration, Fremdsein am neuen Ort nachdenkt, für das Bündner Kunstmuseum genau das Richtige, wenn es darum geht, ihr künstlerisches Schaffen neu zu sehen, wie es sich Museumsdirektor Stephan Kunz für dieses Werk erhofft. Fremd genug ist ihre bildnerische Kunst, nämlich eigenständig, sperrig und voller tiefer Sehnsüchte, Träume, Verletzungen, denen man sich kaum entziehen kann. Diese Ausstellung will keine retrospektive Hommage sein, sondern ein Ort, wo diese Arbeit in ihrer wahren Dimension neu gesehen werden soll.

Von Links nach rechts: Objet á suspendre, um 1979, Objet á suspendre, um 1976, Objet á suspendre, um 1977, Objet á suspendre (Vogel), um 1976, Objet á suspendre, um 1979, Erinnerung an den Turm von Babel, 2000. Foto: Katalin Deér © Pro Litteris, Zürich

Erica Pedrettis Objekte und Zeichnungen wurden öffentlich kaum ausgestellt, obwohl sie seit den Siebziger Jahren neben ihrer Arbeit als renommierte Schriftstellerin ein umfangreiches bildnerisches Werk geschaffen hat. Dazu schreibt die Kunstkritikerin Annelise Zwez in einem Essay zur Monografie von 2017:
Als 1970 „Harmloses bitte“ und 1973 der Roman „Heiliger Sebastian“ erscheinen, wird Erica Pedretti in der öffentlichen Wahrnehmung zur Schriftstellerin. Das kanalisiert die Rezeption ihres Werkes bis heute. Es degradiert die viel weiter zurückreichende bildnerische Ausdrucksweise zum oft geschriebenen „auch bildnerisch tätig“. Das ist nicht korrekt, da es die übergeordnete Bedeutung der Gleichzeitigkeit von Bild und Wort, vom Denken im einen und andern zugleich, von der Grenze der Sprache und der Öffnung dieser durch Zeichnung, Skulptur, Malerei zu wenig bewusst mitdenkt.
Erica Pedretti hat diesen Unterschied in ihrer künstlerischen Vorstellungswelt nie gemacht. Erika Schefter kommt mit Geschichten im Kopf in die Schweiz und ergänzt sie durch das bildnerisch-kunsthandwerkliche Know-How einer Silberschmiedin (1946-1950). Sie erlebt die Kunstgeschichte als Lehrstoff, aber noch viel mehr in der Begegnung mit dem Maler Gian Pedretti und durch ihn in der durch und durch künstlerisch ausgerichteten Bündner Familie der Pedrettis.

Zwar keine Retrospektive, aber die Werkauswahl zeigt auch die Anfänge, nämlich ein Tablett mit Schmuckstücken, die Erica Pedretti, ausgebildete Silberschmiedin, fertigte. Schon hier sind die Grundthemen des Fliegens und Schwimmens ihres späteren Werks angelegt. Besser geeignet zum Überleben war damals die Produktion von Zinngeschirr, welches sie mit ihrem Mann Gian Pedretti für die Subsistenz der Familie herstellte. Und Erica, bald Mutter von fünf Kindern, begann Bücher zu schreiben.

Von Katalin Deér 2019 im Atelier von Celerina fotografiert: Erica Pedretti.

Die Bündner Ausstellung umfasst Werke, die im vergangenen Jahr bereits in Biel zu sehen waren, denn beide Museen haben zusammengearbeitet. Während Erica Pedretti in Biel am Rand beim Aufbau noch mitwirkte, hat sie die Churer einfach machen lassen: «Ich habe gemacht, jetzt könnt ihr,» habe sie gesagt. So hat Stephan Kunz das Team Katalin Deér, Künstlerin, und Lukas Furrer, Architekt, angefragt, die Choreographie für die tanzenden und schwebenden Objekte einzurichten. Es kamen Begegnungen und es entstand Vertrauen. Katalin Deér hat den grossen Traum vom freien Schweben in Luft oder Wasser mit Bewunderung und tiefem Respekt für Erica Pedrettis Werk, das sie vorher gar nicht kannte, zusammen mit dem Architekten adäquat umzusetzen versucht.

Sie bauten Strukturen in den riesigen weissen Raum – Balken über Eck, Tische verschiedener Art und Höhe, auch ein hausgrosser ist darunter, die als Träger oder auch Unterstand für die ausladenden von ihren Körpern befreiten Flügeln oder die feinen, federleicht wirkenden Objets à suspendre und die wie direkt aus der Natur gewonnenen Skulpturen, welche ein labiles Gleichgewicht vorgeben, dienen.

Wer die Retrospektive in Biel gesehen hat, wird viele der schwebenden fischartigen Luftkörper und vogelähnlichen Wesen hier nochmals ganz neu sehen, wer nicht dort war, erlebt vielleicht zum ersten Mal die Kraft und Energie, die dem Werk von Erica Pedretti immanent sind. Die Wirkung der grossen mit einer Haut überzogenen Flügelobjekte aber auch der feinen Arbeiten, entfaltet sich, weil nichts Viereckiges an die Wände gepinnt wurde.

Zeichnung o. Datum. Foto: Eva Caflisch

Die etwa hundert Zeichnungen liegen – subjektiv ausgewählt und assoziativ angeordnet – auf alten schmalen Tischen, deren dunkle Holzfüsse so gekürzt wurden, dass das Auge kurz befremdet schaut, aber den idealen Abstand zur Zeichnung bekommt. Es sind nur wenige Skizzen für das plastische Werk, versammelt sind vorwiegend freie Zeichnungen, welche schnell entstanden sind, und farbige Blätter mit fliessenden Formen.

Objet à poser, um 1977. Draht, Stoff, Blei, Acryl. Foto: Eva Caflisch

Nur für die neuesten Arbeiten, übermalte, überschriebene und collagierte Zeitungsseiten aus der Schreckenszeit des zweiten Weltkriegs, welche Erica Pedretti für Ausstellungen in Literaturhäusern realisierte, haben die Szenografen Stellwände gebaut. Sie lassen den Blick offen, führen ihn vorbei am massiven kleinen Arbeitstisch aus dem Atelier zu Vögeln, die gleich abzuheben scheinen. Der eine scheint aus Metall gegossen, der andere ein feines, mit einer bunten Haut bezogenes Skelett und samtigen Füssen aus verschiedenen Materialien. Erica Pedretti arbeitet mit Stoff, Holz, Fasern, Farbe, Draht, Gips, Latex, Leim, Papier mit und ohne Text – was immer zur Hand war, nutzte sie, um der Idee Form zu geben.

Erstaunlich, wie gut und fast ohne sichtbare Spuren diese Kunstwerke altern, so fragil und zerbrechlich sie wirken, so stabil sind sie in ihrer Materialität. Fast ist man verführt zu sagen, sie seien genau wie ihre Macherin.

Blick in den Saal mit dem grossen Flügel, 1980. Fotografie: Katalin Deér © Pro Litteris, Zürich

Der Ausstellungsraum gewinnt mit dem kühnen Gesamtkonzept der hängenden Objekte und weissen Wände eine Kraft, in welcher auch die scheinbar fragilsten Skulpturen an Intensität und Strahlkraft gewinnen, weil der Blick nirgends von störenden Strukturen gebremst wird, die Traversen aus dunklen Trägern jedoch dem Fragilen den Rahmen geben. In einer Stahlstruktur gleich beim Eintreten in den Raum hängt ein riesiger brauner Flügel, über ein Skelett spannt sich feste Haut wie bei den ersten Flugmaschinen. Es ist das einzige Objekt, welches das Kunstmuseum Chur von Erica Pedretti besitzt.

Bis 7. Juni 2020
Beitragsbild: Ohne Titel um 1977, Draht, Stoff, Blei. Foto: Eva Caflisch

Hier finden Sie Informationen zu der Ausstellung sowie zu den auch der Literatin Pedretti gewidmeten Veranstaltungen.

Über die Retrospektive in Biel und einer Doppelausstellung Gian und Erica Pedretti in Samedan berichteten wir auf Seniorweb.
Die Monografie Erica Pedretti.Flügelschlag, hg. von Dolores Denaro mit Beiträgen von Peter Bichsel bis Annelise Zwez ist im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-903153-66-0).

Nachbemerkung: Weil es für mich Erica nicht ohne Gian gibt und Gian nicht ohne Erica – die beiden Pedretti sind seit der Ausbildung ein Paar – hier ein kleines Supplément, verbunden mit dem grossen Wunsch, dass ich nicht erst in hundert Jahren eine Museumsausstellung des Künstlerpaars Erica und Gian Pedretti besuchen kann.

In der Chesa Planta, Samedan: das Künstlerpaar anlässlich ihrer Sommeraustellung 2017. Foto: Eva Caflisch 

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