StartseiteMagazinKulturDie Leichtigkeit des Fliegens

Die Leichtigkeit des Fliegens

Als Schriftstellerin bekannt und geehrt, schuf Erica Pedretti auch als bildende Künstlerin beachtenswerte Werke. Das Neue Museum Biel widmet ihr eine Retrospektive.

Fliegen faszinierte Erica Pedretti seit jeher. «Wenn ich nicht in den prekären Kriegs- und Nachkriegsjahren aufgewachsen wäre, hätte ich fliegen gelernt, auf die eine oder andere Art», sagt die Künstlerin in einem Interview.

Die Ausstellungsräume im schmucken Musée Schwab, das zum Neuen Museum Biel gehört, sind gefüllt mit schwebenden Objekten. Sie hängen an feinen Drähten an der Decke oder von den Wänden herab. Als Betrachterin fühle ich mich wie von Rieseninsekten umgeben, zumal viele der Objekte zwar deutlich grösser als Libellenflügel sind, aber ganz fein und grazil wirken.

Dazwischen sind andere Objekte befestigt, teilweise aus Textilien, teilweise aus Latex, die an grosse, manchmal schlaffe Segel erinnern. – Auch Segel wecken die Assoziation eines Aufbruchs in die Ferne, ob auf dem Wasser oder in der Luft. Nur wenige Objekte tragen definierte Bezeichnungen, Vogel zum Beispiel oder Fisch. Aber alles sind sehr fragile Gebilde aus Draht, Stoff oder Papier, reduziert auf das Wesentliche.

Seit den frühen 1970er Jahren schuf Erica Pedretti (geb. 1930 in Mähren) ein umfangreiches bildnerisches Werk, das neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit durchaus bestehen kann. Die Künstlerin wurde jedoch vor allem durch ihre Bücher bekannt. Sie gewann neben vielen anderen angesehenen Preisen den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt und erhielt 2013 den Schweizer Literaturpreis für ihr Lebenswerk. In Biel erhält sie nun zu ihrem kommenden 90. Geburtstag erstmals eine umfassende Retrospektive ihres bildnerischen Werkes.

Wie Erica Pedretti 1999 in einem sehr hörenswerten Interview betont, sieht sie sich selbst primär als bildende Künstlerin. Bereits in ihrer Kindheit in der Tschechoslowakei waren beide Bereiche für sie prägend. Ihr Onkel, der ihr nahestand, war Maler, und ihr Vater, Besitzer einer Seidenfabrik und Intellektueller, schrieb Bücher sowie Artikel für Zeitungen. 1945, nach dem Zusammenbruch des Naziregimes, musste die deutschstämmige Familie Mähren verlassen, kam in die Schweiz, wo sie nur fünf Jahre bleiben durfte.

Die Künstlerin absolvierte in den späten 1940er Jahren die Metallfachklasse an der Kunstgewerbeschule in Zürich, die damals Johannes Itten leitete, der ehemalige Leiter des Vorkurses am Bauhaus in Weimar. Er brachte innovative Unterrichtsmethoden nach Zürich.

Dort lernte die junge Frau ihren späteren Ehemann, den Künstler Gian Pedretti, kennen. Mit dem Schreiben begann sie erst viele Jahre später. Was sie nicht in Sprache fassen kann, setzt sie bildnerisch um. Unabhängig davon, in welchem künstlerischen Bereich sie arbeitet, für sie gehorchen beide Medien je eigenen formalen Mitteln, die Ausdrucksform des einen Mediums ist nicht in das andere übertragbar.

Das Ehepaar Pedretti stellte seit den frühen 1950er Jahren eine Vielzahl von Silber- und Zinnarbeiten in Form von Tellern und Bechern her, eine wichtige Einnahmequelle für die siebenköpfige Familie. Erica Pedretti gravierte für jedes einzelne Stück individuelle Blumen- und Tierornamente.

 

Erica Pedrettis früheste künstlerische Werke sind ihre freien Arbeiten als Silberschmiedin aus den 1950er und 1960er Jahren, die ihre luftigen, lichtdurchfluteten Objets à suspendre und Objets à poser der späteren Jahre ankündigen. Schon damals schuf die Künstlerin keine Nachbildungen, sondern aufs Wesentliche beschränkte ‹Ideen› von Vogel- und Fischfiguren, von Lebewesen der Freiheit zu Luft und zu Wasser.

Turms zu Babel

Eines meiner Lieblingsobjekte ist Erica Pedrettis Interpretation des Turms zu Babel (Bild links). Die elegante Form vermittelt den Sinnen das Gefühl von Schönheit, wären da nicht die kunterbunt und zusammenhanglos auf dem Material verteilten Buchstaben. Nichts ergibt einen Sinn – die babylonische Sprachverwirrung.

Fragmentarisch und offen sind alle Werke, die schriftstellerischen ebenso wie die bildnerischen Arbeiten. Erinnerungen werden in Sprache verdichtet, die sich aus Assoziationen speist. Interpretationen sind möglich, werden aber von Erica Pedretti nie vorgegeben. – Diese Wesen zwischen Vogel und Fisch lassen sich nirgends richtig verorten. «Meine Mutter war nirgendwo verwurzelt», sagt Martigna Pedretti, ihre Tochter.

Die Themen Heimatverlust, Flucht, Verletzung, die Suche nach Freiheit und Erinnern bearbeitet die Künstlerin seit den 1990er Jahren auch in einer anderen, faszinierenden Form, einer Verbindung von Schrift und bildlicher Darstellung. Es entstehen Collagen auf alten Zeitungsseiten, darauf befinden sich mit enger Handschrift gefüllte Papierstücke, manchmal mehrere übereinander. Darüber liegt noch mindestens eine Schicht, die wie ein halbdurchsichtiger Firnis das Ganze scheinbar mit einem Nebel zudeckt. Die Zeitungen stammen zumindest teilweise aus dem Krieg, die Handschriften sind vielleicht Ausschnitte aus Briefen, Tschechisch geschrieben oder mehrere übereinander, so dass der Inhalt nicht mehr erkennbar ist. Diese Tafeln gehen ins Vergessen über – oder drücken sie nur den Wunsch nach Vergessen aus?

Erica Pedretti sagt:»Wenn ich über das Schreiben nachdenke, schreibe ich nicht. Wenn ich vom Fliegen träume, fliege ich nicht.»

Im erwähnten Interview erzählt Erica Pedretti, dass sie in den Jahren, als der Balkankrieg ausbrach, schmerzlich an ihre eigenen Jugendjahre erinnert wurde und sich daraufhin aufmachte, noch einmal in ihre Geburtsstadt Šternberk (Mährisch-Sternberg) fuhr – und kaum Erinnerungen fand.

Sehr zu empfehlen ist das schon erwähnte, ausführliche Interview mit Erica und Gian Pedretti, zwei der fünf Kinder kommen auch zu Wort. (Anzuschauen in einem kleinen Nebenraum)

Erica Pedretti im Neuen Museum Biel bis 7. Juli 2019 (verlängert).
Zahlreiche Führungen, auch zu ausgewählten Themen.

Alle Fotos / Ausstellungsansichten: Patrick Weyeneth, NMB

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