StartseiteMagazinKulturAls hätten wir auf eine Jeanne d'Arc gewartet

Als hätten wir auf eine Jeanne d’Arc gewartet

In seinem reich gefächerten literarischen Schaffen tauchen bei Franz Hohler (Bild) immer wieder Texte auf, die den Finger mit maliziöser Hellsichtigkeit auf Gefährdungen der menschlichen Kreatur lenken. Im Homeoffice-Interview wollten wir diesen Spuren etwas nachgehen.

Franz Hohler, als ich davon las, dass kürzlich Flugzeuge aus Shanghai mit Masken, Schutzausrüstungen und mit Produktionsmaschinen für Masken in Genf und Zürich landeten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Denn Ihre Kurzgeschichte „Der Verkäufer und der Elch“, verfasst in den 70er Jahren, zeigt eine verblüffende Analogie auf. Zuerst schicken die Chinesen uns den Virus und kurz darauf die Masken – eine unübertreffliche Satire. Was hat sie seinerzeit dazu bewogen, das Sprichwort „Dem Elch eine Gasmaske verkaufen“ zu erfinden?

Franz Hohler: Der Schwedische Rundfunk fragte 1976 einige deutschsprachige Autoren, ob sie Geschichten in einer einfachen Sprache für die Absolventen ihrer Radio-Deutschkurse schreiben würden und legten ein Vokabular mit den Wörtern bei, welche die Hörerinnen und Hörer der bisherigen Kurse schon kennen sollten. Ich versuchte dann eine Geschichte zu machen, in der nur solche Wörter vorkamen, und darunter waren z.B. Elch, Schornstein, giftig, Gasmaske, Abgase (die Schweden waren schon immer umwelt- und problembewusst), und so entstand diese Geschichte, die, fast ohne dass ich dies beabsichtigte, zu einer Fabel über Ökonomie und Ökologie wurde. 

Auch „Strandgut“ aus dem Jahre 1973 rückt „den Virus einer Seuche, gegen die die Pest nicht viel mehr als ein Schnupfen ist“, in unseren Blickpunkt. Hat Sie damals die grosse Erdölkrise dazu inspiriert?

Nicht in erster Linie. Es ging mir eher um die Vorstellung, dass Ereignisse, die tief in der Vergangenheit liegen, plötzlich in unsere Gegenwart platzen können. Es war auch die Zeit, als man begann, Fässer mit radioaktivem Abfall im Meer zu versenken.

 Der Erzählband „Die Rückeroberung“, 1982 erschienen, beginnt mit dem Satz: „Eines Tages, als ich an meinem Schreibtisch saß und zum Fenster hinausschaute, sah ich, daß sich auf der Fernsehantenne des gegenüberliegenden Hauses ein Adler niedergelassen hatte.“ Und diese erste Geschichte endet so: „Von da an begann man sich langsam darauf einzurichten, daß man diese Tiere möglicherweise nicht loswerden konnte, sondern irgendwie mit ihnen leben mußte. Wo sie herkamen, wußte man nicht, sie wurden nirgends vermißt und es wurde auch keine andere Stadt von ihnen heimgesucht, weder in der Schweiz noch sonstwo in Europa, Zürich war ganz allein betroffen, und niemand wußte warum. (…)

Franz Hohler hat den Nerv der Zeit getroffen, hiess es damals. Sie haben damit die Umweltbewegung quasi vorweggenommen und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen thematisiert. Greta Thunberg könnte im Geiste des Widerstandes eigentlich Ihre Enkelin sein.

Wäre sie es, würde ich mir grosse Sorgen machen um sie. Es ist nicht leicht, in diesem Alter zu einer Galionsfigur einer weltweiten Bewegung zu werden, und ich glaube nicht, dass sie diese Rolle gesucht hat. Dass es weder dem millionenschweren Al Gore noch den grossen Umweltorganisationen wie etwa Greenpeace oder WWF gelungen ist, dem Problem des Klimawandels das Gewicht zu geben, das ihm zukommt, sondern dass es dazu eines unerschrockenen Mädchens mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfen bedurfte, ist ein eigenartiges Phänomen. Es scheint, als hätten wir auf eine Jeanne d’Arc gewartet, auf eine Symbolfigur jedenfalls, und der Grossvater weiss um die Gefährdung solcher Figuren. Eine andere, weniger Greta-fixierte Erklärung, wäre der Satz von Victor Hugo: «Nichts ist so überzeugend wie eine Idee, wenn die Zeit für sie gekommen ist.» 

Nach bald 40 Jahren verblüfft „Die Rückeroberung“ mit einer schon fast prophetischen Deutung, die betroffen macht. Ihre frühen Warnrufe sind aktueller denn je. Stimmt Sie das nachdenklich?

Ich habe die „Rückeroberung“ eigentlich nicht als Warnung verstanden, sondern eher als ein Spiel mit dem Gedanken, die Natur sei letztlich stärker als der Mensch. Den vielen Rückmeldungen, die ich seit ihrer Veröffentlichung immer wieder bekam und noch bekomme (Bilder von überwachsenen Siedlungen, Bilder von wilden Tieren in Städten) entnehme ich, dass dies auch einer Sehnsucht vieler Menschen entspricht. Es ist heute eine Tatsache, dass unsere Städte mehr Biodiversität anzubieten haben als landwirtschaftlich geprägte Gegenden. Direkt vor dem Fernsehgebäude des SRF in Zürich wurde der kleine Leutschenbach, der dem Gebäude den Namen gab, von einer Biberfamilie gestaut, die Bäume und Büsche an den Uferborden sind abgefressen, ein Anblick, der den Stadtbewohner freut (den Bauern wohl weniger).  

Von Angesicht zu Angesicht / Foto © Christian Altorfer

Wann haben wir eigentlich damit begonnen zu glauben, wir könnten die Natur nach Belieben kontrollieren? Ginge es uns besser, wenn wir nicht mehr daran glaubten?

Es begann mit dem verhängnisvollen Auftrag Gottes in der Bibel: «Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan, und herrschet über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und alle Tiere, die auf der Erde sich regen!» Wir sollten uns als Untertanen der Erde erkennen, nicht umgekehrt. 

Es ist irritierend festzustellen, wie kurzlebig unser Gedächtnis und unsere Wahrnehmungen sind. Eben machte die Schweizerische Energie-Stiftung darauf aufmerksam, dass das Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich im kommenden November eine Weiterbildung für Gymnasiallehrer*innen zum Thema „Klimajugend und alternative Energien“ veranstaltet – und zwar im AKW Gösgen. 

Sie schlossen sich in den 70er Jahren in Gösgen der Anti-AKW-Bewegung an und zeigten sich auch 2011 anlässlich der Kundgebung in der AKW-Region Beznau/Leibstadt mit den Gegnern mit dem Satz solidarisch: „Diese 20’000 Menschen sind ein starkes Zeichen für die Politik.“ Wir haben in einem halben Jahrhundert nicht einmal ein Endlager für radioaktive Abfälle zustande gebracht. Und trotz beschlossenem Ausstieg propagiert die Atom-Lobby schon wieder die ach so saubere Energie. Lernen wir tatsächlich nichts aus der Vergangenheit?

Oha, wahrlich ein toller Ort für alternative Energien! Wichtig ist, dass genügend kritische Stimmen da sind und nicht verstummen, hoffentlich auch nicht in der Gymnasiallehrer*innen-Weiterbildung, da sollten ja ein paar Leute dabei sein, die weder Fukushima noch Tschernobyl vergessen haben. Zur Frage, wie der Strombedarf der Zukunft ohne AKWs zu stillen ist, empfehle ich das Buch «Kraftwerk Schweiz» von Anton Gunzinger.  

Ein Virus-Winzling hat zustande gebracht, was wir aus freien Stücken nie und nimmer erreicht hätten – das vorübergehende Erreichen der Klimaziele. Es scheint, als müsse uns die Natur den Tarif fürs langfristige Überleben der Spezies Mensch durchgeben. Wie optimistisch sind Sie, dass wir trotz allem schon bald einmal die Verantwortung für unser Tun und Lassen übernehmen werden?

Die praktisch bedingungslose Milliardenspritze des Bundes an die Swiss macht nicht gerade optimistisch, und die wirtschaftlichen Einbrüche zeigen, wie hoch der Preis für das Erreichen der Klimaziele sein kann. Nötig ist ein Umgewichten und ein Umdenken, das wird schmerzhaft werden, aber jedes Umdenken und jede Neuorientierung setzt auch Energien und Innovationen frei, und ich traue es dem menschlichen Erfindungsgeist zu, dass er Wege findet, sich zum Komplizen der Natur zu machen. Doch es braucht uns alle dazu.


Der Verkäufer und der Elch

Strandgut

Teaserbild © Ayse Javas

 

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