Auch dieser wieder entdeckte und mit erneuter Faszination gelesene Roman könnte eine Anregung bieten, um in diesen Corona-Zeiten über Vergangenes nachzudenken. Wie beispielsweise die Beziehung zur eigenen Mutter, wie sie Gabriela Wohmann so treffend erzählt.
Bis zuletzt winkte die Mutter dem Auto nach, an jenem Abend, genau ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemannes. Sie ist jetzt Witwe, wird nach dem Abschied von ihrer Tochter und dem Schwiegersohn wieder allein in der Wohnung sein. Der Besuch hat das ständig schlechte Gewissen der Tochter ihrer Mutter gegenüber kaum gelindert. Die Tochter fühlt sich elend, macht sich Vorwürfe, sich nicht genügend um ihre Mutter zu kümmern. Dieses Kümmern würde allerdings auch keinem spontanen Bedürfnis entspringen, sondern müsste geplant und vorsätzlich vollzogen werden.
Als der Vater noch lebte, war das Nachwinken oft fast kläglich. Es hat der Tochter wehgetan, vor allem ihren Vater zurückzulassen, denn sie liebte ihn «einfach zu schrecklich». Diese Liebe war es wohl auch, die die Beziehung zur Mutter in den Hintergrund drängte. Von der Trauer um den Tod ihres Vaters erfährt man als Leserin jedoch kaum etwas. Umso mehr jedoch, dass die Tochter der Mutter latente, manchmal auch direkte Vorwürfe macht, sich allzu leicht in ihrem neuen Leben einzurichten. Denn die Mutter bleibt in ihrer ruhigen Art bodenständig, freut sich gerne, sei der Grund der Freude noch so nichtig, zumindest in den Augen der Tochter.
Der Roman «Ausflug mit der Mutter» von Gabriela Wohmann (1932 – 2015), zuerst erschienen 1976, liest sich zu einem grossen Teil so, als würde die Tochter ihre eigene Trauer um den Vater verdrängen, jedoch stellvertretend der Mutter den Vorwurf machen, nicht ausreichend zu trauern. Die Mutter indessen kümmert das kaum. Sie ist auf eine überraschende Weise selbstgenügsam, unternimmt Spaziergänge, beginnt auf einem ihrer Spaziergänge sogar zu singen, nimmt sich vor, wieder Klavier zu spielen. Die Wochenenden verbringt sie jeweils bei ihren beiden Schwestern, die ihm Unterschied zu ihr selbst einen ziemlich chaotischen Haushalt führen.
Die Tochter fühlt sich der Mutter verpflichtet, tut deshalb häufig nur so, als würde sie sich kümmern, während die Mutter auch das kleinste Zeichen der Zuneigung als echt wahrnimmt, denn sie ist für «Argwohn unbegabt». Die alte Frau macht sich selbst nichts vor und damit auch keinem anderen Menschen. Sie liebt ihre inzwischen natürlich längst erwachsenen Kinder, erwartet dennoch nicht viel von ihnen. Nur ab und zu äussert sie einen Wunsch, den die Tochter ihr erfüllt, um das schlechte Gewissen zu beruhigen und vor allem, damit sie sich selbst besser fühlt.
Allmählich jedoch erarbeitet sich die Ich-Erzählerin, indem sie schreibend nachdenkt, einen unverstellten Blick auf die Beziehung zu ihrer Mutter. In diesem Prozess gerät nun der Vater immer mehr in den Hintergrund, bis die Tochter schliesslich die Mutter als «Witwe» wahrnehmen kann, als eigenständige Person und damit losgelöst von dieser quälenden Mutter-Tochter-Verquickung. Gegen das Ende des Romans, während sie sich vorstellt, ihre Mutter sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen, findet die Ich-Erzählerin geradezu rührende Worte: «Das war doch einmal eine Mutter, bei der man als Kind vom Streuselkuchen das Obere abschneiden durfte und das Untere nicht zu essen brauchte.»
Gabriele Wohmann, Ausflug mit der Mutter. Sammlung Luchterhand, Darmstadt und Neuwied, 6. Aufl. 1982, 138 S.