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Literaturtage im Internet statt in Solothurn

Mit viel Arbeit und Kreativität hat das Organisationsteam der 42. Solothurner Literaturtage – berühmt und beliebt unter Literaten und Leserinnen – die Tage am Aareufer Solothurns abgesagt und als Online-Festival programmiert. Ein Gespräch mit Geschäftsführerin Reina Gehrig über das virtuelle Flanieren am Aareufer.

Was ist ein Festival? Eine Veranstaltung, bei der man ohne viel Anstrengung aber interessiert in wenigen Tagen viel erlebt und erfährt, bei der über das Thema vielfältig informiert wird, wo aber auch Zeit für den Austausch und die Vertiefung bleibt. Da Festivals Stammgäste versammeln, ergibt sich fast von selbst eine besondere, für den Anlass typische Stimmung. Bei den Solothurner Literaturtagen ist es das konzentrierte Programm gepaart mit dem Flanieren am Aareufer. Der Kahlschlag wegen der Corona-Pandemie, der weder die Eishockey-WM noch das Lucerne Festival verschonte, traf auch die Kleinen.

Reina Gehrig leitet die Geschäfte der 42. Solothurner Literaturtage als Online-Bücherfest. Foto: © Marco Frauchiger

Seniorweb: Reina Gehrig, kein Literaturfest in Solothurn. Sind Sie enttäuscht?

Reina Gehrig: Schwierig war’s, als sich diese Ungewissheit Mitte März abzuzeichnen begann. Da erlebte ich erstmals, dass die Motivation bei allen auf der Geschäftsstelle im Sinkflug war. So etwas gab es noch nie. Nachdem wir uns entschieden, abzusagen und etwas Neues zu erfinden, setzte das aber neue Energien frei. Das war gut. Aber etwas wehmütig bin ich doch.

Was gab den Ausschlag zur Absage?

Es war Ende März, bevor der Bundesrat die Regeln festlegte. Das Programmheft war fixfertig und hätte in Druck gehen sollen, was grosse Kosten ausgelöst hätte. An diesem Punkt entschieden wir, in Absprache mit den Behörden, nicht wie gewöhnlich weiterzumachen.

Schon Anfang März waren Literaturveranstaltungen abgesagt worden, als erstes wohl die Buchvernissage von Reto Hännys Sturz.

Das zeigt, wie gravierend diese Pandemie für neue Bücher ist. Hier wird einem der Boden unter den Füssen weggezogen. Gewiss, es gibt Schreibende, die insofern Glück haben, als sie im Schreibprozess sind und ihre Bücher später veröffentlicht werden. Aber ich sehe auch eine ganze Kette von Veranstalterinnen, Technikern und anderen, die nun plötzlich kein Einkommen mehr haben, ich sehe Fotografen, die ohne Aufträge da stehen und in Existenznöte kommen. Es trifft Kunstschaffende aller Sparten existentiell.

Landhaussaal während der Solothurner Literaturtage: Links ist einst, rechts ist jetzt.

Der ganze Kultursektor leidet stark. Von vielen höre ich auch, dass sie ihr Publikum nicht mehr erreichen oder gar nicht finden. Wo ist der Weg zu jenen, die meine Bücher lesen? Oder Bühnenschaffende, die sich fragen, wo der Austausch mit dem Publikum bleibe.

Stichwort Lesungen: Einige Autorinnen und Autoren publizierten ihr Werk schon im letzten Jahr. Solothurn ist ja das Schaufenster der Jahresproduktion, andere aber sind mit ihren Büchern regelrecht ins virale Loch geraten – keine oder wenig Besprechungen, geschlossene Buchhandlungen, keine Werbung. Nun fehlt auch Solothurn: Keine Gäste aus dem Ausland können sich vor Ort informieren, keine Veranstalter von Lesungen, keine Buchhändler können sich umsehen und ihre Rosinen picken.

Genau hier liegt die ganz grosse Motivation unsererseits, die Solothurner Literaturtage 2020 als Online-Festival zu organisieren. Man hätte ja auch absagen und das Büro in Solothurn schliessen können. Natürlich können wir den Zielen nicht gerecht werden, aber wir versuchen, einen Beitrag zu leisten, dass die Bücher Aufmerksamkeit bekommen. Mit dem Logbuch, wo unterschiedliche Beiträge aller Eingeladenen aufgeschaltet werden, und anderen Formaten wollen wir unser Publikum, welches auch neugierig auf Unbekanntes ist, pflegen. Wir wissen aus den Besucherumfragen, dass viele kommen, um Neues zu entdecken. Der Grundgedanke der Literaturvermittlung von Büchern aus der ganzen Schweiz und mit Blick ins Ausland wird also trotz allem weiterleben. Ausserdem ist das Online-Festival eine Möglichkeit, den Autorinnen und Übersetzern das Honorar auszurichten.

Zwar an der Aare, aber allein mit der Online-Literatur

Sie bieten eine ganze Reihe von Formaten für die Internet-Plattform der Solothurner Literaturtage an. Woher kamen die Ideen, gibt es Vorbilder?

Ehrlich gesagt, erfanden wir diese schon vor dem Lockdown, nämlich bereits im letzten Herbst (lacht). Letztlich sind die Online-Literaturtage eine Übersetzung unseres Programms, wie es bereits ausgedacht war.

Die Programmkommission mit (von links) Reina Gehrig, Regula Walser, Odile Cornuz, Florian Vetsch, Nora Zukker, Lucas Marco Gisi, Carlotta Bernardoni-Jaquinta, Gabrielle Alioth © fotomtina, 2019

Wir haben alle Veranstaltungen, die sinnvoll übersetzt werden konnten, bei denen ein Mehrwert, auch Spielerisches und Interaktives möglich ist, ins Online-Format übertragen. Keine Veranstaltung, die nun digital stattfindet, war nicht schon analog vorgedacht.

Statt Dichterlesungen gibt es vom 14. Mai an das Logbuch. Haben wirklich alle, die Sie eingeladen haben, nun eine Lesung fürs Internet geliefert?

Mitgemacht haben, bis auf einen Musiker, alle. Sie erarbeiteten gemeinsam mit dem Moderator oder der Moderatorin etwas zu dem Buch, aus dem sie in Solothurn gelesen hätten, und zwar sehr vielgestaltig. So wie wir bei den Lesungen in Solothurn die Schreibenden entscheiden lassen, wie sie ihr Buch am liebsten präsentiert hätten, so überliessen wir es ihnen auch hier, die Form zu finden, die für sie stimmt.

Statt im Stedtli am Ufer der Aare durchs Programmheft blättern, Lesungen auswählen und besuchen, gibt es die Literatur aus Solothurn frei Haus auf den Laptop oder aufs Tablet.

Es gibt viele schriftliche Interviews zwischen Moderatorin und Autor, einige machten zusätzlich ein Video, oder eine Audio-Lesung. Pierre Jarawan beispielsweise hat seine Buchpräsentation mit einer Fotostrecke ergänzt. Es geht nicht nur ums Vorlesen, sondern auch ums Kennenlernen des Autors, seine Motivation, den Text zu schreiben und vor allem um das Buch selbst.

Kann man die Lesungen auch kommentieren?

Es gibt Chat-Möglichkeiten und einzelne Autoren, z.B. Antoinette Rychner, wünschen sich, mit dem Publikum in einen Dialog zu treten – Besucher ihrer Site können ihr schreiben und sie wird antworten. Weiter gibt es ein Gästebuch, in dem das Publikum sich melden kann und schliesslich sind die Stammtische geeignete Foren, in denen man sich austauschen kann.

In den vergangenen Wochen gab es sehr viel gut Gemeintes aber schlecht Gelungenes, ich denke an Handyvideos homemade, Sofalesungen auch bekannter Schriftsteller, die weder vom Bild noch vom Ton her genügten. Gibt es bei euch eine Art Qualitätskontrolle?

Das war einer der Gründe, warum wir auf diese Art Lesungen zuhause und womöglich live verzichten. Alle Schreibenden bekamen die Möglichkeit, in einem Fernsehstudio eine Kurzlesung professionell aufzeichnen zu lassen.

Was die Literaturtage für viele Lesende so attraktiv macht, ist die Nähe zu den Schreibenden. Ohne Schwellenangst kann man einen Dichter, eine Poetin ansprechen, die gerade beim Kaffee oder Bier vor dem Kreuz sitzen.

Wir sind uns bewusst, dass wir diese Situation nicht auffangen können. Dennoch versuchen wir, Fenster zu schaffen, wo mehr als Zuhören möglich ist. Beispielsweise kann im Club+ mit Schriftstellern über ihr Buch gesprochen werden, das die angemeldeten Teilnehmer zuvor zugesandt bekamen. Im Skriptor lässt sich die Diskussion mit verschiedenen Autoren anhand eines unveröffentlichten Texts verfolgen, wobei diese von zuhause über Video miteinander reden.

Erstmals wird der Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis verliehen. Hoffentlich nur ein einziges Mal ohne grosse Party!

Ja, das ist traurig, dass es so starten muss. Ein wichtiges Ziel des Preises ist es, dem Kinder- und Jugendbuchschaffen im Buchhandel und in Bibliotheken grösste Aufmerksamkeit zu geben, auch mit Lesungen im Vorfeld der Preisverleihung. Das war nun nicht möglich.

Aus: Anete Melece, Der Kiosk. Das Buch über die dicke Olga gehört nicht zu den nominierten für den ersten Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis, der am 23. Mai um 15 Uhr im Internet verliehen wird. Es ist erst während des Lockdown Anfang März bei Orell Füssli erschienen. Bild: © Anete Melece

Ins Wasser fällt auch die traditionelle Schlussparty. Wie kann man diese ins Online Format übersetzen?

Ganz verzichten werden wir nicht. Die Autoren Raphael Urweider als DJ und Patrick Savolainen mit Visuals werden dafür sorgen, dass es einen musikalischen und künstlerischen Ausklang gibt.

Dann wünschen wir Ihnen zu Ihren letzten Literaturtagen als Geschäftsführerin, aber auch den Autorinnen und Autoren und allen anderen Beteiligten viel Zuspruch und Applaus für die Literaturtage im Internet. Danke für das Gespräch.

Das Detailprogramm der Solothurner Online-Literaturtage wird am 14. Mai veröffentlicht. Ab heute 12. Mai um 18 Uhr gibt es Beiträge von Autoren, man kann sich für Veranstaltungen mit beschränkter Platzzahl (z.B. Skriptor, Club+) anmelden. Eine Vorschau gibt es bereits.
Bilder: © Solothurner Literaturtage

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1 Kommentar

  1. Vor kurzem sah ich ein Foto aus Solothurn, Landhausquai, wo nun wieder – in gebührendem Abstand – Leute sitzen.
    Da vermisse ich die Literaturtage noch mehr!
    Immerhin lohnt das Logbuch einen Besuch auf der Webseite. Bei der grossen Zahl der Lesungen, zum Lesen und zum Hören, fällt die Auswahl schwer. Ich habe ein bisschen darin gestöbert. Auch einen Ausschnitt aus dem oben erwähnten «Sturz» von Reto Hänny habe ich gehört und wie früher achon, war ich beeindruckt, wie rhythmisch, ja musikalisch sich diese Prosa anhört. Reto Hänny hat sein Buch komponiert, nicht einfach geschrieben.
    Und trotzdem: Am meisten freue ich mich auf die nächsten real durchgeführten Literaturtage.

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